Vollkommene Ruhe ist unsere grösste Sehnsucht und unsere grösste Angst. Handy, Infosmog, Verfügbarkeitsdruck und Selbstoptimierungswahn machen es immer schwerer, mit sich in Frieden zu sein. Diese äußeren Faktoren sind aber nur Spiegel einer inneren Getriebenheit. Wir können Massnahmen gegen zu viel Gedankenlärm ergreifen. Letztlich kommen wir aber nicht daran vorbei, Unruhe als Teil des Lebendigseins zu akzeptieren.
von Roland Rottenfußer
Ranking ist Teil unserer Wettbewerbs- und Spassgesellschaft. Bei einem, das 2008 vom «Stern» öffentlich gemacht wurde, bleibt einem allerdings das Lachen im Hals stecken: Die «Greatest Hits von Guantanamo» – die Liste der Lieder, die bei der Musikfolter angewandt werden. AC/DC, Metallica, Eminem stehen ganz oben im Ranking. Gefangene werden in dem US-Lager für Stunden, oft Tage mit lauter Musik gequält. «Du kannst dich nicht mehr konzentrieren, du glaubst, du wirst verrückt», beschreibt Ex-Häftling Ruhal Ahmed die Erfahrung. Zugegeben, das Beispiel ist extrem. Aber es zeigt eines: Nimmt man Menschen die Ruhe, kann sie das zerbrechen.
Es gibt harmlosere Varianten desselben Phänomens. Jeder ist mal genervt, wenn er in Kaufhäusern, in Fahrstühlen, in der Sauna ungefragt mit Musik berieselt wird. In Restaurants dient das der Atmosphäre. Eros Ramazotti beim Italiener, Mikis Theodorakis beim Griechen. Reinhard Mey machte aus seiner musikalischen Missbrauchserfahrung ein Lied: «Ich werde gegen meinen Willen mit brutaler Gewalt aus dem feigen Hinterhalt mit Musik beschallt.» Viel häufiger als der erzwungene ist allerdings der Lärm, dem man sich freiwillig aussetzt. Technopartys werden oft mit 120 dB beschallt. Wird das dem Einzelnen zu viel, sorgt das Ohr mittels Hörverlust für die nötige Abdämpfung.
Die Gegenwart «wegspülen»
Stille ist für viele schwerer auszuhalten als Lärm. Das zeigte 2005 Philipp Grönings Dokumentarfilm über die Kartäusermönche: «Die Grosse Stille». Der Regisseur lebte ein halbes Jahr lang mit den Bewohnern der Grande Chartreuse in Frankreich und filmte ihren Alltag. Fast drei Stunden lang wird in dem Film kein Wort gesprochen. Man sieht Mönche beim Gehen, Sitzen, Beten, Kochen, Essen. Die Doku spaltete das Publikum in zwei Gruppen. Die einen langweilten sich tödlich und fühlten sich durch den Film, in dem «nichts geschieht», veräppelt. Für die anderen war es eines der ergreifendsten Kinoerlebnisse ihres Lebens. Nach einer Weile nämlich merkt man, dass sich die Stille überträgt. Langsam kriecht sie in den Zuschauer hinein, nimmt immer mehr Raum ein. Das Licht, das die Steinmauern an den Rändern übergiesst. Das Auftropfen von Schritten auf dem Pflaster. Die Seele kommt merklich zur Ruhe, und sogar die Muskulatur entspannt sich.
Philipp Gröning versteht die Herausforderung des Mönchslebens so: «Bin ich bereit, meine eigene Gegenwart anzunehmen, oder lasse ich sie mir wegspülen durch Überflutung.» Hier liegt auch ein Grund dafür, warum es in der Moderne sowohl eine Sehnsucht nach als auch eine Flucht vor der Stille gibt. Es kostet Mut, in diese Freiheit aufzubrechen und Anstrengung, um vollkommen entspannt zu sein. Die Stille ist mit dem Geschmack des Todes behaftet. «Der Rest ist Schweigen» sind Hamlets letzte Worte. Und das «Nichts» hat einen schlechten Ruf, seit Michael Ende aus ihm in der «Unendlichen Geschichte» ein Monster machte, das alle Fantasie Stück für Stück auffrass. Dabei ist es nicht wirklich «nichts», was auf dem Grund des Bechers wartet, wenn man den Trank der Sinneseindrücke leer getrunken hat. Wir gehen in die Stille, weil wir ahnen, dass dort «etwas» ist, das sonst übertönt wird. Wenn wir uns weit genug vom Bierzelt entfernen, ist es ruhig genug, um den Gesang der Blaumeise zu hören. Wir gehen in die Stille, um wieder hören zu lernen.
Genug ist nie genug
Manche machen deshalb Ferien im Kloster, wo sie von geschäftstüchtigen Manager-Mönchen gecoacht werden. Wirklich sinnvoll ist das nur, wenn sich nachhaltig etwas verändert. Oft stabilisieren Pausen ja nur einen falschen Lebensstil, den wir nicht in Frage zu stellen wagen. Was aus dem Arbeitsleben systematisch vertrieben wird, treibt man in der «Freizeit» auf die Spitze. Ergebnis ist eine bipolare Störung des Gehörsinns. Auf 20 Wochen Alltag (U-Bahn-Gedränge, Telefon- und Konferenzen-Stress, Kindergeschrei usw.) folgen zwei Wochen Kloster. Danach von vorn. Gefürchtet und gemieden wird die Nicht-Aktivität. Denn auch Meditation, Retreats und Kuren sind Aktivitäten. Sie werden geplant und in die raren Pausen zwischen extrovertierte Events gequetscht. Wirkliche Frei-Zeit ist fast unbekannt. Die vermeintlich freie wird instrumentalisiert, um die eigenen Kräfte für die unfreie Zeit zu regenerieren.
Unsere Unfähigkeit zu innerer Ruhe hat natürlich auch einen sozialen Aspekt. Sie resultiert aus einem Selbstoptimierungsdrang. Der wird teilweise von aussen erzwungen, wenn etwa Unternehmen mit ihren Mitarbeitern jährlich Zielvorgaben absprechen. Damit wird gesagt: «So wie es ist, kann es auf keinen Fall bleiben. Es muss immer mehr, immer besser werden.» Ähnlich stark wie der äussere Druck ist aber der innere Antreiber. Ich beobachte das an mir selbst. Wenn ich meine Aufträge erledigt und genug Geld verdient habe, schreibe ich weitere Artikel «frei», ohne konkrete Aussicht auf Veröffentlichung. Hätte ich genug Geld, um nicht mehr arbeiten zu müssen, würde mich eine gefühlte «Lebensaufgabe» drängen, das Optimum aus mir herauszupressen. Ich würde Satiren schreiben, einen Roman usw. Um innerlich still zu werden, müssten wir also aufhören, etwas zu wollen oder zu beabsichtigen. Wir müssten ausserdem frei sein von der Furcht, etwas zu versäumen.
Geist unter Dauerbeschuss
Auch ohne hohe Dezibelzahlen kann in unserem Kopf unerträglicher Lärm herrschen. Der Terror der Erreichbarkeit hält uns ständig in einem latenten Spannungszustand. Auch «richtige» Ferien sterben allmählich aus – unter dem Druck, verfügbar sein zu müssen. 61 Prozent der Deutschen checken im Urlaub ihre Mails. Früher galt: Wenn man nicht da war, war man eben nicht da. Manchmal einen Anruf zu versäumen war unvermeidlich. Dann kam der Anrufbeantworter. Heute hinterlässt jeder Anruf eine Telefonnummer auf dem Display. Unterbleibt ein Rückruf, reagiert der Anrufer beleidigt. Während man telefoniert, wird dem Partner angezeigt, dass ein Dritter anzurufen versucht. Oft wird ein Gespräch dann abgewürgt: «Du, bei mir kommt gerade ein Anruf rein. Ich mach dann Schluss.»
So zerfällt der Tag in lauter winzige, inhaltsarme Kommunikationsvorgänge mit dem Ziel, das Beleidigtsein anderer zu vermeiden. Eine virtuelle Glückwunschkarte zum Geburtstag des Facebook-Friends. Ein Gefällt-mir-Klick zu einem (nur flüchtig gelesenen) Artikel. Eine Dreisatz-Nachricht, um die Twitter-Followers bei der Stange zu halten. Man spart bei der Länge eigener Nachrichten («ok thanx mfg r.»). Längere Texte liest man schon gar nicht mehr. Die Zeit, die eingespart wird, indem man jede Vertiefung meidet, wird gleich wieder für 100 unsinnige Kommunikationsvorgänge verpulvert. Der gepeinigte Geist holt sich die benötigte Ruhe dann durch erzwungene Mikropausen. Es sind Momente, in denen wir desorientiert darum ringen, die liegen gelassenen Gedankenfäden wieder aufzunehmen. Manche «erstarren» dann minutenlang. Die so hergestellte Ruhe ist jedoch nicht wirklich erholsam.
Durch heilsame Worte zur Stille
Wird dann Gedankestille «gefordert», etwa in Meditationsseminaren, können wir sie nur schwer erreichen. Länger als vier Minuten schafft es kaum einer, dass keine Worte oder Bilder in ihm aufsteigen. Versuchen Sie es mal! Nicht nur störende Gedanken, auch ein treibende Ungeduld stellt sich dann ein: «Ich wollte ja noch den Artikel zu Ende lesen. Und dann den Abwasch machen. Und dann …» Unsere Gedanken empfinden wir oft mehr als Fluch denn als Segen. Wenn mir die Sitzmeditation schwer fällt, hilft es mir, kleinere Ziele anzustreben, die mir Erfolgserlebnisse verschaffen. Gedanken sind nicht grundsätzlich «Gedankenmüll», wie es einige Lebenshilfebücher ausdrücken. Sie können ruhig und langsam fliessen und dabei wohltuend sein. Solche Gedanken sind Gäste, die man nicht vertreiben muss. Man lädt sie gern ein und lässt sie dann gelassen wieder ziehen.
Damit unsere Gedankenwelt einem erholsamen Garten gleicht, braucht es Vorbedingungen. Mir hilft es, meinen Körper in Schuss zu halten. Dann gleicht er einem gesunden Stamm, der gesunde Gedankenfrüchte trägt. Ich bewege mich gern meditativ, ohne etwas leisten zu wollen, in der Natur. Dabei versuche ich, meinen Gedanken eine konstruktive Ordnung zu geben, bis sie für mich nährend sind, nicht mehr quälend. Bei der Betrachtung der Landschaftsformen stellt sich dann oft eine Stille ein, die ich mit geschlossenen Augen nie erreiche. Ebenso gern arbeite ich mit heiligen Sätzen, mit Gebeten und Mantras. Unabhängig davon, aus welchen Traditionen sie stammen, geht von ihnen oft tiefer Frieden aus. Nach einer solchen Mantra-Übung ist die Stille stiller als vorher.
Unruhe ist menschlich
Jede Wortreligion verweist auf Stille. Diese ist eine aktive Qualität, nicht nur die Abwesenheit von Geräuschen. Jede spirituelle Technik, die Worte verwendet, mündet in Stille. Sufis, islamische Mystiker, arbeiten mit Dhikr – der Rezitation der Namen Allahs. Als höchste Form des Dhikr gilt jedoch das wortlose Anwesendsein vor Gott. Stille ist nicht nur das Endziel des spirituellen Bemühens. Sie ist immer auch Quelle und Hintergrund all unserer Aktivitäten. So wie ein weisses Blatt Papier allen Farben als Hintergrund dient. Der bioenergetische Therapeut Frank Moosmüller sagte in einem Seminar: «Jedes Wort ist eine Bitte um Stille.» Gottgläubige halten sich an das Gebet des Augustinus: «Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist voller Unruhe, bis wir ruhen in dir». Dieser weise Satz bejaht die Unruhe als Teil des Menschseins, solange wir noch auf dem Heimweg sind.
Zu Lebzeiten ist vollkommene innere Friede ein Traum. Wir können schrittweise den Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit von der bewegten Oberfläche hin zur ruhigen Tiefe des Lebens verlagern. Auch dies kann jedoch steril wirken, so als sei die «äussere» Welt unter unserem Niveau. Wer vollkommenen Seelenfrieden anstrebt, sollte vermeiden, einen spannenden Beruf zu ergreifen. Er sollte keine Kinder bekommen, denn die stören nur bei der Selbstbesinnung. Er sollte vor allem nicht lieben. Dann aber verpasst er einen Grossteil dessen, was Leben ausmacht. Wir tun besser daran, mit einem gewissen Mass an Unfrieden in Frieden zu leben.
Über Roland Rottenfußer:
Als Jahrgang 1963 wurde er in München geboren. Nach dem Germanistikstudium Tätigkeit als Buchlektor und Journalist für verschiedene Verlage. Von 2001 bis 2005 Redakteur beim spirituellen Magazin „connection“. Momentan u.a. für Konstantin Weckers Webmagazin www.hinter-den-schlagzeilen.de und für den Schweizer „Zeitpunkt“ tätig.