Die “Würde” des Menschen – Hans Torwesten

von Redaktion

 

Es wäre natürlich lächerlich, unsere einseitige Entwicklung im Westen ausschließlich der christlichen Schöpfungslehre in die Schuhe zu schieben – einer Lehre, deren dogmatische Details sowieso nur die wenigsten kennen. Aber als Christ sollte man sich zumindest einmal Gedanken darüber machen, ob es mit der „Würde“ des Menschen vereinbar ist, dass er sozusagen das Ergebnis eines göttlichen Willküraktes ist. Es wird viel über die drei berühmten „Kränkungen“ des modernen Menschen durch Kopernikus, Darwin und Freud geschrieben, die ihn aus dem Mittelpunkt des Weltall rückten, ihn seiner Sonderstellung auf unserem Planeten beraubten und ihm nicht einmal mehr zugestanden, Herr im eigenen Hause zu sein. Doch die bereits seit Jahrtausenden bestehende Kränkung, dass wir nichts weiter als aus dem Nichts geschaffene Kreaturen sind, scheint nur wenigen aufgestoßen zu sein.
Natürlich könnte man sich genauso gut fragen: Was bleibt von der „Würde“ des Menschen übrig, wenn er im sogenannten göttlichen Grund „zu Grunde“ geht?
Oberflächlich betrachtet auch nichts. Zumindest nichts von der Würde, die wir uns im Laufe unseres Lebens „erarbeiten“ können. Uns werden im Grunde gleichsam wieder alle Orden, die wir uns verdient haben, abgenommen – oder kann man sich einen hoch-dekorierten sowjetischen General mit seinen tausend glitzernden Militärorden auf seiner Brust im göttlichen Grund vorstellen? Oder, um das Niveau etwas zu heben: den alten Goethe mit all seinen Orden und Titeln, auf die er so viel Wert legte? Wenn wir Eckhart glauben wollen, kostet es uns ja nicht nur unsere oberflächlichen Titel, sondern auch unsere Namen, ja, unser Person-sein, wenn wir in den Grund gelangen wollen. Ja, nicht einmal Gott selber schafft es, laut Eckhart, je in diesen Grund hineinzulugen, solange er auf seinen Eigenschaften als allmächtiger Schöpfergott besteht. Das alles muss draußen bleiben, sagt er, das ent-wird im Grund.
Das heisst : Im Grund stehen wir – und sogar Gott – ganz schön nackt da. Ohne Orden, ohne Verdienste, ohne all unsere Persona-Masken, die wir uns im Laufe unseres Lebens mit so viel Mühe aufgebaut und angeeignet haben. Das mit den Militär-Orden mag ja noch hingehen, aber er verlangt auch noch, dass wir unsere Intelligenz, unsere Kreativität, unseren Stolz auf unsere „Originalität“ und „Einmaligkeit“ und ach so tolle „Selbstverwirklichung“ an der Garderobe abgeben und völlig „arm im Geiste“ zu Grunde gehen.
Waren dann Juden, die sich in Auschwitz vor den Angestellten des Naziregimes nackt ausziehen und sich einer völlig entwürdigenden Körperkontrolle unterziehen mussten, dem göttlichen Grund schon ganz nah?
Die äußere Entkleidung und Demütigung bringt uns dem göttlichen Grund natürlich nicht automatisch näher – obschon es durchaus einmal möglich sein mag, dass eine solche entwürdigende äußere Situation im Inneren einen Knacks erzeugt, der uns in unserer Entwicklung weiterbringt. Das wirft natürlich absolut keinen nachträglichen Heiligenschein auf menschen-verachtende totalitäre Regime. Aber wenn der Durchbruch zum Grund jederzeit möglich ist, in jedem Nun, dann ist er vielleicht auch in einer solchen Extrem-Situation möglich, die uns freundliche demokratische Systeme leider oder Gott sei Dank nur selten bieten.
Ja, der Mensch wird im Grund seiner Würde entkleidet, radikal – um sie dann neu in Empfang zu nehmen, strahlender, als Adam sie im Paradies je hatte. Nur handelt es sich dabei um eine Würde, die auf keine Leistungen, Orden oder Etikette mehr angewiesen ist. Nicht einmal die berühmte „Ebenbildlichkeit“ Gottes spielt hier noch eine Rolle, denn solange wir noch von Bildern, Abbildern und Ebenbildern sprechen, sind wir vom Grund noch meilenweit entfernt. Unsere Würde liegt gerade darin, dass wir nicht „etwas“ oder „jemand“ sind: kein Bild, keine Person, kein dieser oder jener – sondern der Grund, aus dem all dies hervorgegangen ist.
Wir merken hier schon, dass diese Grund-Vorstellung von der Würde des Menschen sich nicht ganz mit unseren humanistischen Vorstellungen deckt – wie sie etwa in der UN-Charta und ähnlichen Deklarationen niedergelegt sind. Hier, wie auch in kirchlichen Verlautbarungen, ist stets von der Würde der menschlichen Person die Rede. Diese muss intakt bleiben. Und sie sollte es auch, von unserem westlich-demokratischen Gesichtspunkt aus gesehen. Die absichtliche Untergrabung und Zerstörung dieser Würde durch kollektivistische Systeme, durch Faschismus und Kommunismus, durch fundamentalistische Fanatiker oder auch durch „imperialistische“ Amerikaner, hätte einen Mystiker wie Eckhart bestimmt nicht begeistert. Es geht nicht darum, dieses mühsam errichtete Fundament humanistischer Werte zu untergraben, sondern es zu transzendieren. Und dies kann kaum kollektiv geschehen. Wo es versucht wird, nimmt es fast immer sektiererische und zerstörerische Züge an. Es kann nur vom Einzelnen versucht werden, wenn der Grund, sein wahres unzerstörbares Selbst, ihn unwiderstehlich anzieht. Und in diesem Prozess bleibt von der sogenannten äußeren Würde der Person oft nicht mehr viel übrig.
Wir empfinden diese „Würde“ ja schon oft im äußeren Leben als einengend, als Korsett. Hin und wieder wollen wir über die Stränge schlagen, ausrasten, die Grenzen sprengen. Faschistische Systeme haben diese dionysische Ursehnsucht des Menschen geschickt und schamlos für ihre Zwecke ausgenützt. Doch auch wenn wir im normalen Alltag als Mann und Frau ins Bett steigen, legen wir mit unseren Kleidern auch einen Teil unserer „Würde“ ab, wir wollen bis zu einem gewissen Grad unserem „würdigen“ (und meist etwas langweiligen) Person-sein entfliehen, wir wollen außer uns geraten, wir wollen, im „Kleinen Tod“ des Orgasmus, zu Grunde gehen. Nicht zufällig haben Mystiker oft die Sprache des Eros und der Sexualität benützt, um das Außer-sich-Sein mystischer Ekstase zu beschreiben.
Fast jede Religion kennt den Typ des „Heiligen Narren“, der sich um äußere Würde kaum noch schert. Im christlichen Bereich mischen sich manchmal masochistische Züge hinein, so, wenn der heilige Franz von Assisi absichtlich Situationen heraufbeschwört, in denen er gedemütigt wird. Doch trotz mancher „pathologischer“ Züge geht es doch fast immer um eine innere Freiheit, die sich nicht selten in äußerer Nacktheit offenbart – wie beim heiligen Franz, wenn er seinem Vater seine Kleider vor die Füße wirft, oder wie im Leben des bengalischen Heiligen Ramakrishna, der gern all seine Kleider fortwarf und nackt im Kreis seiner Jünger tanzte.
Der Artikel erschien erstmals in CONNECTION 2/2008, www.connection.de
Hans Torwesten ist Künstler und Autor, http://www.galerie-torwesten.de/

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