Gott ist ein Sprechender – B. Rabinowitz, S. König

von Thomas

HimmelrichtextReligion ist die Sprache Gottes. Wie viele Sprachen Gottes sprechen Sie? Überlegungen zur Religion in einer Zeit des Streits und der Sehnsucht nach Versöhnung.

Von Baruch Rabinowitz und Solveig König

 

 

Wer sich mit einer Religion beschäftigt, taucht in eine Welt der Polaritäten unter. Religion ist die Mutter sowohl der größten Heiligen als auch der schlimmsten Verbrecher. Sie verbindet die Menschen mit einem Band, das Verwandtschaft und Freundschaft weit übertrifft. Sie teilt aber auch die Menschen, grenzt sie voneinander ab und stiftet Hass und Krieg. Sie verleiht Identität und zerstört die Persönlichkeit.

All das ist wahr! Allerdings nur, wenn man die Religion als ein soziologisches Phänomen betrachtet. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist Religion nur eine unter vielen anderen Identitäts- und Gruppenbewusstseins stiftenden Philosophien und Schulen, die von der Politik und Wirtschaft leicht manipuliert und für eigene Zwecke benutzt werden können.

Als solche wurden die Religionen schon längst erkannt und missbilligt. Im 21. Jahrhundert nimmt man die Religion entweder nicht mehr ernst, wendet sich von ihr ganz ab, oder neigt zum religiösen Fanatismus, der unabhängig von der Konfession als unangenehm, anstrengend, gefährlich oder gar obszön erlebt wird.

Stecken in einer Religion mehr als nur Gebote und Verbote, Himmel und Hölle? Kann der Geist Gottes sich noch über die theologischen Hochburgen erheben, ohne wie ein Dschinn in einer dunklen Lampe eingesperrt zu werden? Können wir es wagen, die Religion heute noch einmal neu zu verstehen? Zum Beispiel als eine Sprache. Denn „die Grenzen meiner Welt sind die Grenzen meiner Sprache“ schrieb Wittgenstein. Wäre es vielleicht heute angebracht zu sagen: „Die Grenzen meiner Welt sind die Grenzen meiner Religion“?

 

Bücher, nicht Schwerter

Gott ist ein Sprechender. Er spricht mit Abraham und Moses, mit Jesus und Muhammed. Gott spricht zu jedem einzelnen von uns. Gott liebt es, zu sprechen! „Am Anfang war das Wort“ sagt Johannes der Evangelist. „Sprich!“ ist der Anfang der vier letzten Suren im Quran, die wohl jeder Muslim auswendig kennt. Das gesprochene Wort Gottes schafft neue Realitäten. Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Moses muss zum Felsen sprechen, damit das lebendige Wasser daraus fließt. Er schlägt aber mit seinem Stab auf den Felsen und ausgerechnet das verhindert, dass er ins Gelobte Land einziehen kann. Gott spricht durch die Heiligen Schriften der drei monotheistischen Religionen. Er spricht durch die Erfahrung der Mystiker. Er sprach damals. Er spricht heute!

Gott spricht. Er spricht durch die Natur und durch die Propheten, durch den Alltag und durch jede einzelne Seele, die uns begegnet. Seine Botschaft ist immer die Liebe, die Erlösung, das Heil. Alles entsteht durch sein Wort. Sein Wort ernährt, heilt, bewegt und schafft. Kein Wunder, dass jede der drei monotheistischen Religionen nur ein Buch erbt – keinen Stab und kein Schwert.

Gott spricht von Seiner Liebe an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Sprachen. Er ist „Al-Latif“, der Feinfühlige, wie Er sich im Islam offenbart. Er verkündet Seine Liebe und die Erlösung der ganzen Menschheit und würdigt gleichzeitig jede einzelne Tradition und Kultur. Was Gott dafür verlangt? Die Botschaft ist immer dieselbe: Wende dich vom Bösen ab und tu Gutes. Mehr nicht. Denn das was man sät, wird man auch ernten.

 

Sprechen ist Handeln

Religion ist die Sprache, in der Gott mit uns spricht und in der wir mit Gott sprechen. Eine Sprache an sich ist weder gut noch böse, weder richtig noch falsch. Aber je nach dem, wie wir sie benutzen, können wir durch die Worte, die wir verwenden, heilen oder verletzen, Kriege auslösen oder Frieden stiften. Das liegt an dem Sprechenden, nicht an der Sprache selbst. Jedes gesprochene Wort löst beim Hörenden eine Reaktion aus, versetzt ihn in einen anderen Zustand. Je nach dem, was er zu hören bekommt, in einen Zustand der Freude, der Trauer oder Wut. Sprechen ist Handeln. Beleidige ich einen  Menschen, handele ich bereits, weil ich in meinem Gegenüber eine Resonanz auslöse, die Trauer oder Wut sein kann und schaffe bereits dadurch, in diesem Moment, für uns beide eine neue Realität, die zwischen uns vermutlich keine Gemeinschaft, sondern Trennung und Ablehnung erzeugen  wird.

Wie ist es um Gottes Botschaft der Liebe bestellt? Hören wir sie nicht mehr? Ja, könnte es sein, dass unsere heutige Welt viel zu schnell und zu laut ist, dass wir nicht mehr innehalten und selber still sein können, um zu hören, zu lauschen, unser Gehör der universellen Botschaft zu öffnen? Und fordert nicht Gott selbst unser Ohr? Beginnt nicht eines der bekanntesten jüdischen Gebete mit den Worten: Höre, Israel! Und spricht Jesus im Evangelium und in der Offenbarung nicht zu uns: Wer Ohren hat, der höre! Und bitten die, die Gott im Gebet suchen, nicht um sein Gehör: Bitte Gott erhöre mich! Und kennt nicht Gott jede Sprache, jeden Akzent und Dialekt? Er hört uns! Hören wir ihm zu? Oder verschließen wir unsere Ohren und glauben im Besitz einer Wahrheit zu sein, die eine und einzig richtige Sprache zu sprechen, in der wir Phrasen monoton in Endlosschleifen wiederholen und alles andere für falsch halten und niederbrüllen?

 

Grenzen aufheben

„Außerhalb vom Richtigen und Falschen befindet sich ein Feld. Dort werde ich dir begegnen“ sagt der islamische Mystiker Rumi. In der Zeit der Globalisierung und Information ist es notwendig, die aus dem Mittelalter stammenden Grenzen, die immer noch so sehr unser Denken dominieren, aufzuheben. Während Zugehörigkeit, Identität und Gemeinschaft weiterhin enorm wichtig sind, ist es heute gleichzeitig von zentraler Bedeutung, sich mit einer viel größeren und wichtigeren Gemeinschaft zu identifizieren – mit der Menschheit. Jeder hat seine eigene Muttersprache. Wie wäre es, wenn wir alle noch ein paar Sprachen dazu lernen? Wie wäre es beispielsweise für einen Christen die 99 Namen Allahs zu kennen: Der Höchste, der Barmherzige, der Öffnende, der Hörende, der Ernährende, der Zeuge, der Verborgene, den niemand wirklich begreifen kann. Ein Muslim wird unendliche Schätze im Judentum und in der hebräischen Sprache finden. Es gab eine Zeit, als Rabbis und Imams zusammen studiert, geforscht und gesucht habe. So sind Kabbala und Sufismus entstanden. Wäre es nicht an der Zeit, sich wieder zusammenzusetzen? Rabbi Raschi, im 11. Jahrhundert der bedeutendste Rabbiner und Kommentator aller jüdischen Schriften, war mit dem Bischof von Troyes  befreundet und hat an dessen Priesterseminar die Studenten in Hebräisch und in der Tora unterrichtet. Auch wenn schon viele Barrieren durch den christlich-jüdischen Dialog überwunden worden sind, es gibt noch mehr Möglichkeiten, die entdeckt und wahrgenommen werden wollen. Der Mensch kann Gott und Seiner Gnade nicht entfliehen. Sie begegnet ihm im Judentum, im Christentum und im Islam. Wagt er eine neue Sprache zu lernen, sich dieser Sprache zu bedienen, dann wird seine Welt um ein Vielfaches reicher werden!

 

Baruch Ignatius Rabinowitz, 1973 in Moskau geboren ist orthodoxer Priester des westlichen Ritus im Orthodoxen Karmel – eine orthodoxe ökumenische Gemeinschaft im Dienste der christlichen Einheit.

www.soul-solutions.eu

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2 Kommentare

Christiane 18. November 2015 - 23:00

Religionen dieser Welt vereint euch! EINE Weltreligion wäre ausreichend und dazu würde Sie auch Berge versetzen …

A. Terporten 18. November 2015 - 19:50

Wunderschöner Text, der die Weisheit der Welt auf den Punkt bringt! Mehr davon in dieser Welt!

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