Glaube und Spiritualität. Eine Familiengeschichte – Manfred Miethe

von Redaktion

Der gläubige Mensch muss zwangsläufig immer auch zweifeln, denn der Zweifel ist seit jeher der Gefährte des Glaubens. Er muss zweifeln, weil er die Dinge, an die er glaubt, nicht aus eigener Erfahrung weiß, sondern das, was andere ihm sagen, als wahr hinnimmt und mehr oder weniger inbrünstig hofft, dass sie wahr sein mögen.

Die größten Wahrheiten sind so einfach, dass sie jedes Kind verstehen kann. Aber wir lieben es, alles kompliziert zu machen und misstrauen dem, was offensichtlich ist. Wir vermuten lieber als zu wissen. Wir glauben lieber als zu vertrauen. Meister müssen an nichts glauben, weil sie alles wissen. Und wissen tun sie, weil sie es selbst erfahren haben. (Magma: Handbuch für Meister)

Der spirituelle Mensch hingegen weiß aus eigener Erfahrung, daher ist die Gefährtin der Spiritualität die Gewissheit. Der spirituelle Mensch gibt sich nicht mit Erfahrungen aus zweiter Hand zufrieden, er will und muss alles für sich selbst herausfinden. Der Buddha soll sinngemäß gesagt haben, dass niemand seinen Worten glauben solle, nur weil er, ein Erwachter, sie gesagt habe, sondern dass jeder die Wahrheit für sich selbst entdecken müsse. Seine letzten Worte sollen angeblich gewesen sein: „Seid euch selbst ein Licht.“ Damit ist er wohl der Begründer einer wissenschaftlichen Spiritualität.

Nun scheint es aber doch so zu sein, als ob die Wissenschaft – die sich ja mit der Erforschung der Materie, also des Äußeren, befasst – und Spiritualität – die sich mit der Erforschung des Geistes, also des Inneren, beschäftigt – Gegensätze sind und sein müssen. Wissenschaft ist aber nicht das, was die von Konzernen bezahlten „Wissenschaftler“ daraus gemacht haben, sondern eine Methodik, die das Unbekannte erforscht und Gewissheit erlangen will – die eben, wie das Wort schon sagt, Wissen schafft. Grundvoraussetzung dafür ist aber eine völlige Unvoreingenommenheit gegenüber möglichen Ergebnissen, eine totale Offenheit des Geistes und eine gründliche Erforschung in alle Richtungen.

Wenn ich eine Idee habe, was das Ergebnis meiner Forschungen sein wird, werde ich auch genau zu diesem Ergebnis kommen. Allein der Akt des Beobachtens verändert bereits das zu Beobachtende. Viele Wissenschaftler erforschen nur das, was sie sich vorstellen können. Alles andere fällt in die Rubrik: „Was nicht wahr sein darf, kann auch nicht wahr sein.“ Um aber etwas zu erforschen, muss ich alle Scheuklappen ablegen und freie Sicht in alle Richtungen haben.

Wenn ich zum Beispiel daran glaube – weil ich es gelesen habe -, dass jedes Lebewesen, und damit auch ich, von einer Aura umgeben ist, die ich mit etwas Übung sehen kann, dann werde ich sie mit etwas Übung tatsächlich sehen, denn eines ist gewiss: Die menschliche Vorstellungs- oder Einbildungskraft ist unermesslich machtvoll. Etwas ganz anderes ist es aber, wenn ich um Menschen herum eine Lichthülle sehe und mich dann bemühe herauszufinden, ob mit meinen Augen etwas nicht stimmt oder ob auch andere Menschen diese Lichthülle sehen. Diese Offenheit und Unvoreingenommenheit aber haben die Gläubigen aller Glaubensrichtungen noch nie besessen. Daher ist es kein Wunder, dass sie von den Chefideologen aller Kirchen als Herde bezeichnet werden, die in den Schoß der Kirche zurückgetrieben werden müssen.

Ebenso wenig ist es ein Wunder, dass der christliche Bischofsstab ein Hirtenstab ist, kein Wunder auch, dass Petrus, der Gründer der Katholischen Kirche, als Menschenfischer bezeichnet wird, der die Menschen in seinem Netz fangen will. So ist das Ideal der christlichen Kirche – sowohl ihrer katholischen und orthodoxen Version als auch den vielen protestantischen Sekten – nicht der mündige, spirituelle Mensch, der Gott und sich selbst erkannt hat, sondern das gläubige Schaf, das zufrieden blökt, wenn ihm ein paar schöne Worte mit auf den kalten Lebensweg gegeben werden, und das sich mit der Hoffnung auf die fetten Weiden des Himmels über den Mangel auf Erden hinwegtrösten lässt – und brav seine Kirchensteuer zahlt.

Nicht viel besser steht es mit den anderen Religionen, mit dem Islam, dem Judentum, dem Hinduismus, Schintoismus, Daoismus oder Buddhismus. Auch sie haben sich längst in sinnentleerten Ritualen verloren, die um ihrer selbst willen ausgeführt werden. Auch sie sind längst zu Kirchen geworden, die von einer Hierarchie geführt werden, die – wie jede politische Klasse auch – nichts weiter im Sinn hat, als ihre eigene Macht und ihre Pfründe um jeden Preis zu bewahren.

Dabei ist es doch gerade so, dass die meisten Religionen von Rebellen gegründet wurden, die ursprünglich angetreten waren, die Religionen ihrer Väter zu reformieren. Aber wie heißt es doch so treffend: Wir waren die, vor denen man uns gewarnt hat, und wir sind die geworden, gegen die wir einst rebelliert haben. Das gilt nicht nur für den individuellen Menschen heute, der sich vorgenommen hatte, einmal alles anders – und selbstverständlich besser – zu machen als seine Eltern, sondern eben auch für die Religionsstifter früherer Zeiten, die sich gegen die leeren Rituale ihrer Vorväter aufgelehnt hatten. Jesus war ein Rebell gegen die Pharisäer im Besonderen und das Judentum im Allgemeinen, Buddha rebellierte ebenso wie Mahavira, der Gründer des Jainismus, gegen das Kastensystem und den Dogmatismus der Brahmanen und des Hinduismus, und Mohammed war der Polytheismus, also die Vielgötterei, seines Volkes ein Gräuel. Und Laozi (Lao tse), der Begründer des Daoismus, zog sich angewidert von politischen Intrigen und dem Chaos, das machtgierige Fürsten und Priesterschamanen angerichtet hatten, aus der Welt der Menschen zurück, um als Einsiedler im Einklang mit der Natur zu leben. Wäre er nicht an der Grenze aufgehalten worden, hätten wir nie etwas von seiner Lehre gehört.

Alle diese Menschen haben sich also geweigert, das zu glauben, was man ihnen erzählt hat, sondern mehr ihrer eigenen Erfahrung vertraut. Sie haben nicht auf die vielen äußeren Stimmen gehört, die uns allen ständig zubrüllen: „Das war schon immer so, deshalb solltest du besser daran glauben, wenn du dazugehören willst! Wenn die Mehrheit so denkt, musst du auch so denken! Wenn du dich weigerst, so zu sein wie wir, wird es übel ergehen!“ Sie haben auf die einsame innere Stimme gehört, die flüsterte: „Ich will nicht glauben, ich will wissen. Ich will keine Erfahrung aus zweiter Hand, ich will meine Erfahrungen selbst machen und meine eigenen Schlüsse ziehen.“

Um das aber tun zu können, dürfen wir keine vorgefasste Meinung haben, wir müssen alles in Frage stellen, was man uns seit unserer Geburt eingetrichtert hat, wir müssen ausbrechen aus der Konsensrealität, die will, dass wir alle im geistigen Gleichschritt marschieren. Die meisten Christen, Juden und Muslime sagen: „Ich glaube an Gott“, weil ihnen jede tatsächliche Erfahrung Gottes abgeht, weil sie nicht anders können als zu glauben, weil ihnen kein einziger Beweis für die Existenz Gottes vorliegt. In diesem Sinne ist Glauben tatsächlich Nicht-Wissen. Würden sie Gott in ihrem Herzen spüren, würden sie erfüllt sein von der immerwährenden Präsenz Gottes, müssten sie nicht an ihn glauben. Dann wäre Gott nicht mehr außerhalb ihrer selbst, sondern ein Teil von ihnen, so wie sie Teil von Gott sind.

Glaube ist Sache des Gehirns, nicht des Herzens. Und der Gefährte des Glaubens ist der Zweifel. Alles, was das Gehirn glaubt, wird sofort von einem anderen Teil des Gehirns in Frage gestellt.

Glaube und Zweifel gehören zusammen wie Dick und Doof. Das Eine ist nichts ohne das Andere. Der Buddha und Laozi haben sich nicht in metaphysischen Spekulationen über das Wesen Gottes oder ein Leben nach dem Tode ergangen, sie haben sich mit dem befasst, was für uns Menschen erfahrbar ist. Wer behauptet, das Wesen Gottes beschreiben zu können, der beweist damit nur, dass er keine Ahnung von Gott hat. Wie sagte Laozi angeblich: „Das Dao, das sich beschreiben lässt, ist nicht das wahre Dao.“ Ich sage angeblich, weil ich nicht einmal sicher sein kann, dass es einen Menschen wie Laozi (wörtlich nur: alter Meister) überhaupt gegeben hat.

Glaube und Spiritualität haben dieselbe Mutter, nämlich die Sehnsucht, die Sehnsucht nach Vereinigung mit dem Göttlichen und so nach Rückkehr zum Ursprung. Aber obwohl sie dieselbe Mutter haben, so haben sie doch zwei verschiedene Väter: Glaube die Apathie und Spiritualität den Forscherdrang. Die Apathie will nichts als ihre Ruhe. Sie gibt sich damit zufrieden, das wiederzukäuen, was andere ihr vorsagen. Sie findet ihr Glück im warmen Mief eines Stalles, in dem sie dichtgedrängt mit den anderen Kühen vor sich hin kaut.

Der Forscherdrang hingegen gibt sich mit nichts zufrieden als der Wahrheit – wie immer sie auch aussehen mag. Die Meinungen anderer und überliefertes Gedankengut bedeuten ihm nichts weiter als Herausforderungen, die seine Entschlossenheit nur noch verstärken. Er findet sein Glück in der Erschließung immer neuer Räume und bei der Suche nach Erkenntnis.

Ich sagte schon, dass der Gefährte des Glaubens der Zweifel ist und zusammen gebären sie Angst und Hoffnung. Die Angst davor, allein in einem kalten, uns feindlich gesonnenen Universum zu leben, und die Hoffnung, dass es doch eine omnipotente Macht gibt, die schützend ihre Hand über uns hält: der große kosmische Papa eben. Wo Angst herrscht, da ist der Glaube niemals weit, und je größer die Angst, desto größer die Hoffnung, das, woran wir glauben, möge sich letzten Endes doch als wahr erweisen, auch wenn wir – wenn wir einmal ehrlich zu uns sind – eigentlich nicht so recht daran zu glauben vermögen.

Die Gefährtin der Spiritualität hingegen ist die Gewissheit und zusammen gebären die beiden Mut und Vertrauen. Mut, den eigenen Weg zu gehen und sich auf die Reise ins Innere zu begeben, und das Vertrauen darin, in einem größeren Zusammenhang sicher aufgehoben zu sein. Der spirituelle Mensch wagt immer wieder von Neuem den Sprung ins Ungewisse, weil er tief in sich erfahren hat und ohne jeden Zweifel weiß, dass es nichts gibt, vor dem er Angst haben müsste. Der gläubige Mensch hingegen gibt sich damit zufrieden, auf der Zuschauertribüne zu sitzen und den spirituellen Menschen auf dem Spielfeld zu applaudieren. Mit Vorliebe macht er diese dann zu seinen Göttern, aber nur solange, wie sie seinen Glauben nicht gefährden, wie sie nicht versuchen, ihn aus seiner Apathie zu erwecken.

Wenn sie das versuchen, werden aus Göttern Teufel, die es zu steinigen, zu kreuzigen oder auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen gilt. Letzten Endes aber sind der gläubige und der spirituelle Mensch doch Geschwister, die lediglich auf verschiedenen Wegen zum selben Ziel wollen: nach Hause. Viele der Menschen, die sich heute „spirituell“ nennen, sind in Wirklichkeit Gläubige, die zwar mit den etablierten Religionen nicht viel anfangen können, aber munter alles nachplappern, was ihnen aufgetischt wird – darunter auch die haarsträubendsten Geschichten. Sie unterscheiden sich von den traditionell Gläubigen hauptsächlich dadurch, dass ihre Aufmerksamkeitsspanne weitaus kürzer und ihr Durchhaltevermögen geradezu nichtexistent ist.

Während die „normalen“ Gläubigen ihr Leben lang einer Kirche angehören und sich durch nichts von ihrem Glauben abbringen lassen, so stolpern die Neugläubigen, also die „spirituellen“ Sucher, ständig in der Angst, etwas zu verpassen, durch das, was sie als Supermarkt des Lebens empfinden. Daher jagen sie ständig dem neusten und besseren Guru, den vielen Neuerleuchteten, der effektivsten – und natürlich zeitsparendsten – Methode hinterher wie der sprichwörtliche Esel der Karotte. Wenn ich einen garantierten Bestseller schreiben wollte, würde ich ihm den Titel geben: „Wie werde ich glücklich, gesund, sexy, erfolgreich, unsterblich und wohlhabend in nur fünf Sekunden.“ Es gibt aber im Leben nichts zu verpassen und Befreiung wird nicht in Kursen oder in der Gegenwart von Menschen erlangt, die sich die Prädikate „Ego-los und erleuchtet“ gegeben haben, sondern im alltäglichen Leben, in den Beziehungen zu unseren Partnern, Eltern und Kindern, zu Chefs und Kollegen, zu Freunden und „Feinden“.

Aber es gibt noch einen weiteren, wichtigen Unterschied: Die meisten der traditionellen Gläubigen glauben nicht wirklich, denn sonst würde sich ihr Glaube in ihrem Verhalten ausdrücken. Viele lügen und reden routinemäßig schlecht über andere, sie betrügen und suchen immer ihren Vorteil, sie sind neidisch und begehren nicht nur des Nachbarn Hab und Gut, sondern auch seine Frau, manche morden und vergewaltigen sogar.

Das alles aber steht im Widerspruch zu den Geboten aller Religionen. Wer seinen Glauben ernst nimmt, der hätte viel zu viel Angst davor, in die Hölle zu kommen oder als Wurm wiedergeboren zu werden, als dass er sich etwas Derartiges zuschulden kommen lassen würde. Die esoterischen Neugläubigen aber glauben mit Inbrunst selbst den offensichtlichsten Schwachsinn, denn sie suchen so verzweifelt nach einem Sinn, nach irgendetwas, das die grässliche Leere in ihrem Innern füllt, dass sie jeden „gesunden Menschenverstand“ völlig aufgegeben und jede Kritikfähigkeit verloren haben. Aber Kritikfähigkeit ist unbedingt notwendig, wenn wir unseren eigenen Weg gehen und unser wahres Wesen entdecken wollen.

Thich Nhat Hanh sagte sinngemäß: „Das wahre Wunder besteht nicht darin, auf dem Wasser zu wandeln, sondern mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen.“ Der Alltag, die Welt der Dualität, ist unsere spirituelle Praxis, denn wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die menschliche Erfahrungen machen. Das kann man nun glauben oder man kann es für sich selbst herausfinden. Nur weil ich es geschrieben habe, muss es nicht wahr sein.

© Manfred Miethe

Manfred Miethe, 1950 in Hamburg geboren, lebt im Berner Oberland, wo er schreibt, übersetzt, Qigong und Taiji unterrichtet und die Aussicht auf die Berge genießt.

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