Dornröschen – Maximilian Yehudi Schäfer

von Thomas

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Dornröschen ist sicher eines der bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm. Wohl ein jeder, der sich halbwegs gebildet nennt, kennt es zumindest in seinen Grundzügen. Märchen sind nicht nur Kindergeschichten – im Eigentlichen sind es Botschaften aus der Welt der Weisheit für uns Menschen zur Orientierung in einer manchmal rätselhaften Welt. Diese Botschaften hüllen sich in eine symbolhafte Bildsprache, deren tieferer Sinn, wie die Sprache der Träume, erst wieder gelernt werden muss.

von Maximilian Yehudi Schäfer


Dann erst wirken sie richtungsweisend und letztlich befreiend für unser persönliches Leben. Alle Bildsymbole und Figuren stehen für geistig-seelische Realitäten in uns selbst. So heißt es zu Beginn dieses Märchens, dass ein König und eine Königin sich sehnlich ein Kind wünschen, aber lange keines bekommen konnten. In der Sprache der Entsprechungen steht der König für den Logos, die göttliche Ordnung oder die Vernunft und die Königin für den Eros, die ansprechende Form. Diese beiden Prinzipien sind aber für sich alleine genommen unvollständig und unfruchtbar ohne ein Drittes, das aus ihnen erst entstehen soll. In der christlichen Überlieferung ist es das Christuskind, das göttliche Bewusstsein im Menschen. In anderen Überlieferungen hat es andere Namen, z. B. Buddhanatur, Tao oder Horus.

Ausgerechnet ein Frosch, Symbol der triebhaften Sexualität, verkündet nun der Königin die anstehende Geburt des lange ersehnten Kindes. Warten nicht auch wir oft insgeheim in unserem Leben, dass irgendetwas Grosses, Wunderbares sich ereignen möge, ohne genau zu wissen was? Das Kind, das schließlich geboren wird, ist so schön, dass der König außer sich vor Freude ist. Die Verstandesvernunft vermag das göttliche Wunder nicht zu fassen, das immer größer ist als unsere Vorstellung. Und dieses neu geborene Kind steht für die himmlische Seele in uns, oft unserem Alltagsbewusstsein entzogen. Nur in seltenen Momenten des Tiefberührtwerdens, z.B. durch ein Naturschauspiel, den Tönen eines vollendeten Musikstückes oder einer tiefen Liebesumarmung, taucht dieser Spiegel des Göttlichen in uns auf, als Empfinden und Sehnsucht aus dem Meer des Nichtbewussten. Schönheit ist ein wesentliches Attribut des Göttlichen und im Englischen heißt das Märchen demnach auch „Sleeping Beauty“.

Mit der Geburt des Göttlichen beginnt nun aber auch das Drama, denn das gefallene materielle Bewusstsein setzt dem Reinen und Unschuldigen immer einen Widerstand entgegen. In der Bildsprache der Bibel beispielsweise wird das göttliche Kind, der Erlöser, vom weltlichen Herrscher Herodes verfolgt und er schreckt in seinem Wahn nicht zurück, ihm Hunderte von Knaben zu opfern, in der Hoffnung, dass der gesuchte Messias unter ihnen sein möge. Eine fast identische Geschichte gibt es in der indischen Legende vom Krishnaknaben.

In unserem Märchen vom Dornröschen ist es die 13. Fee, Symbol der Widersachermacht, die einen tödlichen Fluch über das schöne Dornröschen ausspricht, der gerade noch von einer guten Fee in einen hundertjährigen Schlaf abgemildert werden kann. Damit ist das Schicksal des schönen Kindes besiegelt. Und wenn wir uns auch wünschen, es könnte verschont bleiben, so ahnen wir doch, dass dieser Fluch zwingend ist. Und wie voraus gesagt, betritt es an seinem 15. Geburtstag in Abwesenheit des Königs, also der rationalen Vernunft, eine geheime Kammer des Schlosses, die sich in einem Turm, Symbol der Verstandeshybris, befindet, trifft dort eine alte Frau, hinter der sich die böse Fee verbirgt, sticht sich, wie prophezeit mit der Spindel und fällt darauf sofort in einen tiefen Schlaf.

Der Stich mit der Spindel steht hier für die Dominanz des Verstandesdenkens über das instinkthafte Gefühlswesen des Kindes, das bei einem Menschen tatsächlich so mit etwa 15 Jahren eintritt. Damit wird die Kindesunschuld zerstört. Dieser Prozess wird oft gleich gesetzt mit dem Verlust des Urvertrauens oder der Vertreibung aus dem Paradies. Da aber der Urgrund der Welt Liebe ist, bedeutet die Dominanz des Verstandes mit seiner kritischen Beurteilung der materiellen Verhältnisse und der Menschen eine Bewusstseinstrübung, die in der Sprache des Märchens als Schlaf bezeichnet wird.

Damit drückt diese ewige Weisheitsgeschichte etwas aus, was wir auch von Mystikern und spirituellen Lehrern gehört haben, dass der natürliche Mensch sich in einem schlafähnlichen Zustand befindet, aus dem ein Erwachen erst möglich ist, wenn die Zeit reif ist, im individuellen durch ein geistiges Erwachen der Seele und im Kollektiven der Menschheitsgeschichte durch das Erscheinen des Messias.

Gleichzeitig mit dem Fall in den Schlaf beginnt um das Schloss herum eine hohe und scheinbar undurchdringliche Dornenhecke zu wuchern. Die Dornenhecke steht dabei für die gestörte, neurotische Persönlichkeit, die, weil sie glaubt sich schützen zu müssen, sich so sehr nach außen abschottet, dass kaum noch neue lebendige und ihrer Entwicklung förderliche Erfahrungen und Ideen sie erreichen kann. Dies kann so weit gehen, dass alles was einem Menschen dann von außen an Angeboten des Lebens begegnet, nach bereits eingeschliffenen eigenen Filtern (fehl-) interpretiert wird. Der Mensch sieht nur noch das, was er entsprechend seinen inneren Mustern zu erkennen glaubt. Eine solche Haltung ist weit verbreitet und in unseren westlichen Gesellschaftssystemen fast schon zur Norm geworden.

Daraus erklärt sich dann auch das Phänomen, dass viele Menschen beispielsweise in Krisensituationen wie beim verheerenden Tsunami in Asien überhaupt nicht mehr in der Lage sind, auf eine aktuelle Bedrohung angemessen zu reagieren, was dann oft zur tödlichen Katastrophe führt.

Wäre da nicht im Lande die Sage vom schlafenden schönen Dornröschen und gäbe es nicht immer wieder von Zeit zu Zeit heldenhafte Jünglinge, die ihr Leben daran setzen, um sie wach zu küssen, wir hätten das schöne Kind längst vergessen. Nur ganz im Verborgenen unserer Seele tragen wir, besonders wenn wir noch jung und unschuldig sind, eine geheime eine Ahnung und Sehnsucht in uns nach etwas Verlorenem, etwas Unnennbarem. Dieses Etwas äußert sich auf einer unreifen Stufe oft in unrealistischen Sehnsüchten und Fantasien nach dem Helden oder der Prinzessin unserer Träume. Eine ganze Industrie von Billigliteratur und Boulevardmedien lebt davon. Ebenso ist ein jeglicher Starkult ein Ausdruck dieses fehlgeleiteten Sehnens, bei dem diese Ahnung eines Göttlichen in uns nach außen in das Idol projiziert wird.

So steht der Prinz symbolisch für das aktive Streben nach dem Guten und Wahren, der sich nicht mit einer Liebesillusion oder einem unrealistischen Lebenstraum zufrieden geben kann, sondern nicht aufhört zu suchen, bis das innerste Geheimnis unseres Wesens, die göttliche Seele erweckt worden ist. Menschheitsgeschichtlich steht der Prinz im Märchen Dornröschen auch für den Messias, den Gottessohn, der erst erscheint, wenn die Zeit reif ist—in der Sprache des Märchens nach 100 Jahren—um die menschliche Seele aus ihrem Schlaf der materiellen Wahnes zu erlösen. Viele Geisteshelden haben es schon vor ihm versucht und sind gescheitert, erst der „Gesalbte“, das Christusbewusstsein, vermag die Dornen in Blumen zu verwandeln, weil seiner Allmacht nichts widerstehen kann, da alles was existiert bereits sein Eigentum ist. Diese Blumen stehen auch symbolisch für das neue Friedensreich, die „Lilienzeit“, wie der Deutsche Mystiker Jakob Böhme sie genannt hat, der diese kommende Epoche des Weltfriedens in seinen Visionen bereits vor über 250 Jahren geschaut hat.

Dieses goldene Zeitalter wird dann erscheinen, wenn das Urmännliche, nämlich das Ideal, das sich im Willen zum Guten und Streben nach dem Wahren ausdrückt, mit dem Urweiblichen wieder vereinigen wird – der freudvollen Hingabe an das Göttliche, das sich in Schönheit der Form und Anmut im Selbstausdruck darstellt. Im Märchen ist diese Verbindung der Kuss des Prinze (in einer älteren Version heißt es, dass Dornröschen und Prinz sich geschlechtlich vereinigen ).

Mit dem Erwachen der Prinzessin erwacht auch der gesamte Hof wieder zu neuem Leben, so wie wenn wir seelisch mit uns selbst ganz im Reinen sind, uns plötzlich die gesamte Welt um uns herum ein freundliches Gesicht zu zeigen scheint. Aus der Sicht des erwachten Bewusstseins dient alles scheinbar Verhängnisvolle letztlich dazu, durch die Transformation des Unerlösten und Abgründigen immer neue Aspekte im Spektrum des Lebens zu erschaffen, wie die aus der Erde fressende Raupe sich durch Verwandlung in der Dunkelheit und Enge des Kokons in einen wunderschönen, sich in einen von Nektar ernährenden Schmetterling entfaltet.

Alle mythischen Überlieferungen, zu denen auch unsere Volksmärchen gehören, sind letztlich Heilsgeschichten mit (fast immer) einem Happyend, weil das Christusbewusstsein sich geschichtlich bereits in die gefallene Materie hineingeopfert hat und jetzt in dieser Zeit im kollektiven Seelengrund der Menschheit in vielen Erwachenden die geistige Wiedergeburt erfährt. Dieses Geschehen, das sich jetzt mitten unter und um uns auf vielerlei Weise entfaltet, ist allerdings für den vernunftorientierten Weltverstand noch weitest gehend verborgen (Jesus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“). Und das ist gut so, damit das Neue nicht wieder, wie geschichtlich so oft geschehen, von dem um sein Überleben kämpfenden, gefallenen materiellen Bewusstsein, dem „Evil Empire“ vereinnahmt und in seiner befreienden Kraft verdreht werden kann. Vieles deutet darauf hin, dass das Neue Bewusstsein, wenn es diesmal erscheint, bleiben und seine Qualitäten unserer Erde aufdrücken wird.


Von Maximilian Yehudi Schäfer
Lichtexperte, Bewusstseinstrainer, Autor
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