Neue Politik: Aufbruch ins Lebendige? – Dr. Thomas Steininger

von Thomas
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Gesellschaftliche Veränderung, progressive Spiritualität und Menschen mit Herz – das sind die Stichworte zu diesem Artikel von Dr. Thomas Steininger. Unsere Welt ist geprägt von den komplexen Systemen der Weltwirtschaft und unserer politischen Institutionen. Der Radio-Moderator und freie Journalist reflektiert über die letzten 30 Jahren unseres gemeinsamen Lebens auf diesem Planeten und über die Wertschätzung von Lebendigkeit als einen politischen Akt.

von Dr. Thomas Steininger, zuerst erschienen in evolve

 

1978 war ich an meiner ersten großen politischen Aktion beteiligt. Damals sollte in Österreich das erste Atomkraftwerk ans Netz gehen. Doch es gab im Land überraschenden Widerspruch. Für Menschen aus den fortschrittlichen wie auch aus den konservativen Teilen der Gesellschaft war die Atomkraft zu einem Symbol für eine Industrie geworden, die in eine grundlegend problematische Richtung ging. Sie stand für eine Entwicklung, die in Kauf nahm, für scheinbar billigen Strom unvorhersehbare gesundheitliche Risiken für viele Generationen in Kauf zu nehmen. War das noch eine Industrie, die für uns Menschen da war? Eine ganze Generation entdeckte die Ökologie. Denkprozesse, die damals anfingen, stellen sich vielleicht heute mit einer Dringlichkeit dar, die wir damals noch nicht ahnten. Können wir Entscheidungen verantworten, deren Folgen unsere Enkel tragen? Damals in Österreich gelang es den Gegnern der Atomkraft, eine Volksabstimmung über das bereits gebaute AKW Zwentendorf durchzusetzen. Viele, auch wir jungen Menschen, waren über Monate auf der Straße und diskutierten über die Risiken und darüber, welche Industrie und welche Gesellschaft wir wollten. Was niemand erwartet hatte, geschah: Am 5. November 1978 stimmten die Menschen in Österreich mit knapper Mehrheit gegen die Atomtechnologie. Das AKW Zwentendorf wurde noch vor seiner Inbetriebnahme zu einem Museum einer veralteten Technologie. Viele von uns empfanden diese Volksabstimmung als eine Zeitenwende. Wir träumten von Wind- und Sonnenenergie und von einer neuen, ökologischen Gesellschaft. Doch der Zeitgeist wehte vorerst in eine andere Richtung als unsere jungen Träume.

 

30 Jahre Umbruch

In den letzten dreißig Jahren standen wir immer wieder vor überraschenden globalen Veränderungen, die uns jeweils neu über unsere Gesellschaft nachdenken ließen. All diese Umbrüche haben unser Verständnis von Geschichte und Gesellschaft nachhaltig geprägt. Das neue Wort, das die 80er Jahre beflügelte, hieß Neoliberalismus. Es stand damals für die Politik von Ronald Reagan und Magaret Thatcher. Ihre Politik war der Anfang einer neuen, radikal markt- und wirtschaftsorientierten Politik. Der nächste Einschnitt in die gesellschaftliche Entwicklung war das Jahr 1989, der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks in Europa. Es war eine Zeit des Zusammenbruchs der Ideologien. Einer der wirklichen Helden des historischen Umbruchs in Europa war Václav Havel. Der tschechische Dichter und Dissident wurde über Nacht zum Präsidenten der jungen tschechischen Demokratie. Der tiefe, aber auch skeptische Humanismus dieses Dichterpräsidenten versprach eine neue menschliche Dimension in der Politik: „Die Tragik des modernen Menschen ist nicht, dass er immer weniger über den Sinn des eigenen Lebens weiß, sondern dass ihn das immer weniger stört.“ Hier sprach jemand, dem die existenzielle Dimension unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht fremd war. Václav Havel war wie ein Versprechen für eine neue Politik, in der die Menschen in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer Freiheit und ihrer Eigenverantwortlichkeit im Mittelpunkt standen.

Aber der Frühling in der Politik dauerte nicht lange. 2001 kam der große Schock. Im Terroranschlag auf die Twin Towers in New York und im Krieg gegen den Terror zerbrach die naive Hoffnung, das 21. Jahrhundert würde vielleicht frei von ideologischen Kriegen sein. Die Welt erlebte einen neuen globalen Konflikt. Die westliche Welt war mit einer radikalen, ja brutalen Ablehnung ihrer liberalen Werte aber auch gegenüber ihrer neoliberalen Politik konfrontiert. Die weltweite Renaissance der Religion bekam auf einmal die Form eines rückwärtsgewandten und manchmal auch erschreckenden Fundamentalismus.

2008 kam der nächste Schock: die Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie riss die Welt in wenigen Wochen fast in den Abgrund. In Europa schwelt die globale Finanzkrise seither weiter vor sich hin und wird zum Nährboden rechtspopulistischer Bewegungen. Aber auch weltweit ist die Schuldenkrise nur vorerst mit zusätzlicher Verschuldung aufgefangen worden.

Die globalisierte Welt erzeugt eine Komplexität, wie wir sie in unserer Geschichte noch nie gesehen haben. Sie ist geprägt von einem historischen Klimawandel, von neuen Kriegen, dramatischen Flüchtlingsströmen – einer Dauerkrise, die alle Akteure zu überfordern scheint. Gleichzeitig leben wir in einer Welt, in der die neuen Technologien eine Wissens- und Datenökonomie erschaffen, die uns als globale Menschheit fast neu erfindet. Wohin führt dieser Umbruch, den viele als Zeitenwende erleben? Die Ära des Neoliberalismus scheint zu Ende zu gehen. Das Vertrauen in die Vernunft der globalen Börsen, das sie die letzten 30 Jahre bestimmt hat, ist seit 2008 dramatisch eingebrochen. Aber auch eine 300 Jahre alte Ära der uneingeschränkten westlichen Dominanz in der Welt scheint zu Ende zu gehen. Neue Aufsteiger wie China, Indien, Brasilien aber auch Regionalmächte wie Südafrika und der Iran sind Vorboten einer Zukunft, in der verschiedene Kulturen um Mitbestimmung konkurrieren werden, um zu beeinflussen, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen wird.

Teil dieses Umbruchs ist eine Renaissance der Religion. Wir erleben sie nicht nur in fanatisch-fundamentalistischen Formen des Islam. Die Tea-Party-Bewegung in den USA und Putins neu-orthodoxes Russland sind Teil einer weltweiten fundamentalistischen Welle. Aber die Renaissance der Religion, oder besser gesagt, die Renaissance der Spiritualität hat auch ein zweites Gesicht. Viele Menschen, gerade in den USA und Europa, suchen nach einem neuen Einklang zwischen den Werten westlicher Aufklärung und einem neuen Verständnis von Religion und Spiritualität, eine Synthese einer aufgeklärten Vernunft und einer offenen Spiritualität. Es gibt auch die Renaissance einer progressiven Spiritualität und unser Magazin versteht sich als Teil dieser Entwicklung.

 

Progressive Spiritualität

Jürgen Habermas, der wahrscheinlich bedeutendste Sozialphilosoph unserer Zeit, bezeichnet sich selbst als „religiös unmusikalisch“, aber sein Verständnis der grundlegenden gesellschaftlichen Herausforderungen, vor denen wir gemeinsam stehen, zeigt vielleicht auch, welchen Beitrag eine moderne, offene Spiritualität leisten kann. Jürgen Habermas beschreibt in seinem Werk den zentralen gesellschaftlichen Konflikt des 20. und 21. Jahrhunderts als einen Konflikt zwischen zwei Bereichen der Gesellschaft, die er „Lebenswelt“ und „Systemwelt“ nennt. Traditionelle Gesellschaften kannten diesen Konflikt nicht, aber ihre Lebenswelten waren noch nicht von dem getrennt, was wir heute als „das gesellschaftliche System“ verstehen. Wirtschaft und Politik waren in den traditionellen Gesellschaften Ausdruck einer gemeinsam gelebten kulturellen Sphäre. In frühen Stammesgesellschaften waren Arbeit und Gemeinschaftsleben noch eins mit der gelebten Spiritualität der Stammesgesellschaften. In späteren Priesterkulturen prägten Priesterherrscher die gesellschaftlichen Normen. Die damalige Arbeits- und Lebenswelt war tief durchdrungen von der spirituellen Welt der großen Religionen. Das Zinsverbot vieler Religionen war ein Ausdruck dieser Einheit.

Die Trennung zwischen System- und Lebenswelt kam, so Habermas, mit der europäischen Reformation und der Industrialisierung. In der Zeit der Reformation entkoppelten sich Geld- und Machtstrukturen von den traditionellen Lebenswelten. Wirtschaft und Politik wurden zu einem unabhängigen System mit eigener Logik und Dynamik. Habermas beschreibt, dass in der modernen Welt die Systemwelt in immer größerem Maße danach trachtet, die Lebenswelten zu kolonisieren. Sie transformiert menschliche Beziehungen zu Warenbeziehungen oder abstrakt-bürokratischen Machtbeziehungen. Es geht darum, so Habermas, diesen Prozess der Kolonisierung umzukehren. Sein politisches Projekt besteht darin, den Lebenswelten durch „verständnisorientiertes Handeln“ wieder ein Übergewicht gegenüber der Eigenlogik von Markt und Bürokratie zu geben. Die Überwindung der weltweiten ökologischen Krise, aber auch die Zähmung der Marktlogik durch die Werte menschlicher Beziehungen, braucht eine starke verständnisorientierte Lebenswelt.

Auch eine globalisierte Welt, die nicht nur eine Globalisierung der Märkte ist, sondern eine Globalisierung unserer Beziehungen, braucht ein tiefes Verständnis lebendiger zwischenmenschlicher Beziehungen und einer lebendigen Beziehung zu dieser Erde. Progressive Spiritualität kann uns dabei helfen, auf einer radikalen und existenziellen Weise zu verstehen, was der Unterschied zwischen Lebenswelt und Systemwelt eigentlich ist. In einem Wald nicht nur „Nutzholz“ zu sehen, sondern lebendige Bäume wahrzunehmen, ist ein spiritueller Akt. Unsere menschlichen Beziehungen nicht weiter zu käuflichen Warenbeziehungen verkommen zu lassen, ist ein spiritueller Akt. Zu sehen, wie die Systemwelt weite Bereiche unserer Seele kolonisiert hat, ist ein spiritueller Akt. Wir brauchen unsere menschliche Intuition und unser Herz, um den Wert des Lebens wieder zu sehen.

Sind wir in der Lage, die Natur und vielleicht sogar den Kosmos als lebendig und beziehungsfähig zu erfahren – was uns in tiefer spiritueller Einsicht zugänglich werden kann?  Albert Einstein war nicht nur ein genialer Physiker, sondern auch ein moderner, mystischer Mensch. Er meinte einmal, wenn er Gott eine Frage stellen könnte, dann wäre es die Frage: „Ist das Universum freundlich oder nicht?“ In dieser Frage steckt natürlich auch noch eine Frage: Ist das Universum beziehungsfähig, ist es lebendig? Die materialistische Wissenschaft beschreibt den Kosmos im Grunde als eine große kalte Leere mit ein paar verstreuten Materiebrocken. Spirituelle Intuition sieht das anders. Es gibt gute Argumente, auch aus einer aufgeklärten und modernen Perspektive unser Universum als ein ungeteiltes, beziehungsfähiges und lebendiges Ganzes zu sehen. Diese Einsicht würde dem Wort Lebenswelt eine andere Tiefe geben. Diese radikale Wahrnehmung unserer universellen Lebenswelt ist vielleicht einer der wichtigsten Beiträge der Spiritualität zu den Fragen unserer Zeit.

 

Lebenswelt

Der philippinische Soziologe und Träger des Alternativen Friedensnobelpreises Nikanor Perlas hat Habermas’ Gedanken zu System- und Lebenswelt auch im Rahmen eines globalen politischen Aktivismus weitergedacht. Nikanor Perlas, der eine spirituell erweiterte Sicht der Lebenswelt vertritt, sieht neben Global Business und den internationalen politischen Strukturen in der globalen Zivilgesellschaft eine entstehende dritte, Lebenswelt-orientierte globale Kraft. Die globale Zivilgesellschaft verbreitet und verbindet sich auch durch die Entstehung des Internets in den letzten Jahrzehnten über den ganzen Globus. In ihr spielen soziale, tiefenökologische aber auch direkt spirituelle Werte eine immer bedeutendere Rolle. Die weltweiten Netzwerke der entstehenden Zivilgesellschaft sind vielleicht der Anfang eines globalen Verständigungsprozesses, der weit über die Grenzen der verschiedenen Nationen und Kulturen hinausgeht. In Nikanor Perlas‘ Vision ist das Netzwerk eine verständigungsorientierte globale Lebenswelt, die mit Global Business und den weltweiten politischen Strukturen in eine konstruktive Auseinandersetzung gehen kann.

Einer der auch spirituell motivierten Vordenker einer lokalen und globalen Lebenswelt ist Charles Eisenstein. In seinen Büchern beschreibt er unsere Zeit als einen epochalen globalen Umbruch. Er sieht ihn als den Übergang von einer Kultur der Trennung zu einer Kultur der Wiedervereinigung mit der Lebendigkeit des Lebens, der Lebendigkeit des Kosmos und der Lebendigkeit unseres Planeten Erde. Das große Echo, das Autoren wie Charles Eisenstein bis tief hinein in die Occupy-Bewegung der letzten Jahre gefunden haben, zeigt zumindest, dass es eine neue Sensibilität und ein neues Interesse für ein spirituelles Verständnis unserer Lebenswelt gibt.

Seit der Finanzkrise 2008 hat sich auch im Mainstream der Medien der Diskurs stark verändert. Das Wort Nachhaltigkeit hat eine neue Bedeutung gefunden. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es eine neue Generation von Postmaterialisten. In Deutschland und der Schweiz ist es seit einigen Jahren gelungen, eine breite Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen zu führen. Enno Schmidt, Mitinitiator der Schweizer Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen, betont in seiner Arbeit, dass allein der Gedanke des bedingungslosen Grundeinkommens unser herkömmliches Menschenbild und unsere Vorstellungen über unsere menschlichen Beziehungen infrage stellt. Er sieht in der öffentlichen Debatte schon einen großen Erfolg.

Ethische Banken wie die GLS Bank, die Ethik Bank oder die Triodos Bank in Deutschland zeigen, dass es auch Ansätze gibt, ganz real mit Geld und Kapital in einer Weise umzugehen, die nicht nur der Logik der Systemwelt, sondern auch den Werten unserer Lebenswelten Rechnung trägt. Die aus Österreich kommende Initiative für Gemeinwohlökonomie macht ganz direkt den Versuch, die Wirtschaftlogik wieder über politische und demokratische Prozesse an die Werte einer verständnisorientierten Lebenswelt anzuschließen. Radikale Ansätze wie Charles Eisensteins Ideen einer „Schenkökonomie“ gehen dem Gedanken nach, dass die einfache Einsicht, dass uns das Leben selbst – und viele der wesentlichen Qualitäten unseres Lebens wie Liebe, Respekt, Freundschaft – nur geschenkt werden können, wenn sich unser Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft verändert. Auch unsere globalen Probleme brauchen eine neue Kultur einer globalen Lebenswelt. Dazu leisten die verschiedenen Formen traditioneller und progressiver Spiritualität wichtige Beiträge.

Als wir 1978 gegen die Atomkraft in Österreich abstimmten, hatten wir die Hoffnung, dass erneuerbare und lebensbejahende Energie bald Mainstream wird. Auf eine gewisse Weise ist sie das heute, nach über 35 Jahren, auch geworden. Die Herausforderungen unserer Welt sind aber nicht kleiner geworden. Um der Lebenswelt in dieser Welt eine neue Bedeutung zu geben, müssen wir auch sehen, wo diese Lebenswelt immer wieder neu geboren wird – in unseren Beziehungen. Im lebendigen Dialog entdecken wir immer wieder auf‘s Neue unsere gemeinsame Welt. Vielleicht ist es auch die Aufgabe der progressiven Spiritualität, eine neue Dialogkultur anzustoßen, in der die Lebendigkeit unserer Beziehungen und die Lebendigkeit der Welt erfahrbar und lebbar werden. Diese bewusste Dialogkultur wird ein wichtiger Beitrag sein.

Der Text ist zuerst erschienen in evolve – Magazin für Bewusstsein und Kultur
www.evolve-magazin.de
www.facebook.com/evolve.magazin

 

Über Dr. Thomas Steininger:

Er ist Herausgeber des Magazins evolve und studierte Philosophie an der Universität Wien mit einem besonderen Schwerpunkt auf Bewusstseinsthemen und soziale Evolution. Er arbeitete für das österreichische Radio (Ö1) und als freier Journalist. Thomas lehrte beim Masters-Programm für „Conscious Evolution“ am Graduate Institute in Connecticut/USA in Zusammenarbeit mit Don Beck, Susanne Cook-Greuter, Allan Combs u. a. Heute leitet er emerge e.V. Deutschland und moderiert das Webradio Radio evolve. Er hält international Vorträge und gibt Seminare über Dialog und evolutionäre Spiritualität.

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