Wahrnehmung und Bewusstheit – Interview mit Dr. Stephano Sabetti

von Thomas

Stephano_Sabetti_textDr. Stephano Sabetti ist Doktor in Counseling Psychology und ausgebildet in Klinischer Psychologie. Er lernte u.a. bei Fritz Perl, Isadore Fromm, Alexander Lowen und John Pierrakos und lehrt in vielen Ländern den „Path of No Way“. In seinen Büchern mit Titeln wie „Im Fluß des Seins“, „Die Freiheit bist Du“ oder „Waves of Change“ weist er auf einen Weg zu vorbehaltloser innerer Freiheit. Dabei unterstützt der „Path of No Way“ den Übergang von der psychologischen zu einer sich vertiefenden spirituellen Erforschung, indem der Modus der „I (Ich)-dentity“ erkannt und sich allmählich auflösen darf, um den Qualitäten von Freude, Glücklichsein und Liebe immer mehr den Raum zu überlassen. Das von ihm entwickelte Heartfulness Training betont die Qualitäten eines leeren oder gegenstandslosen Geistes auf dem Weg zu einer tieferen Bewusstheit.

Im Rahmen des Kongresses der Akademie Heiligenfeld 2016 ergab sich die Möglichkeit eines Interviews mit Stephano Sabetti zu den Themen Wahrnehmung und Bewusstheit aus psychologischer und spiritueller Sicht. Er wird auch dieses Jahr wieder auf dem Heilgenfelder Kongress mit Vortrag und Workshop am 18.-21. Mai mit dabei sein.

Interview von Patricia Lüning-Klemm

 

Lieber Stephano, Du hast u.a. bei Fritz Perls, Isadore Fromm, Alexander Lowen und John Pierrakos gelernt, bist ausgebildet in Gestalt Therapie, Klientenzentrierter Therapie und Bioenergetik. Du hast als Psychotherapeut gearbeitet und bist Begründer des Life Energy Process® und des spirituellen Path of No Way®. Im Rahmen des Kongresses (2016) bietest Du einen Workshop an zum Thema: Persönliche Probleme und spirituelle Lösungen. Könntest Du erläutern, worin der Unterschied zwischen einer psychologischen und einer spirituellen Problemlösung besteht?

Während der ersten Jahre meiner psychotherapeutischen Tätigkeit fand ich heraus, dass die Suche nach einer psychologischen Lösung oft keine wirkliche Antwort in Hinblick auf eine tragfähige Problemlösung ermöglichte. Ich nutze gerne das Bild eines Trichters: Der obere Teil symbolisiert den psychologischen Anteil und der untere Teil steht für den spirituellen Bereich. Das psychologische Problem bezieht sich auf die Verbindung zum Ich, zur Persönlichkeit und zum Charakter, hier entsteht das Problem in einer persönlichen, begrenzten Perspektive. Ein spirituell ausgerichteter Lösungsansatz entwickelt sich in einer offeneren Haltung und ist auf einer essentielleren, tieferen Ebene zu ergründen.

Du bist sehr schnell am Punkt, sehr präzise… Könntest Du beschreiben, was Dich leitet, wenn es um das Erfassen der Problemschilderung geht? Ist der Weg des Erforschens in einer tieferen Dimension nicht mit großer Angst verbunden?

Immer. Dieser tiefere Bereich weist auf ein schwarzes Loch. Ein Sich-fallen-Lassen in dieses Loch ist mit starken Ängsten verbunden und gleicht einem Todesprozess. Doch durch das schwarze Loch hindurch öffnet sich eine Art Ausdehnung. Die Psychologie definiert: Du bist wütend. Du bist das Problem. In diesem Fall ist die Person mit der Wut identifiziert. Ein Erforschen in einer tieferen Dimension dagegen führt zu der Haltung: Ich spüre diese Wut in mir, sie kommt durch mich, aber ich bin es nicht. Die Persönlichkeit ist damit der Wut nicht hilflos ausgeliefert, sondern der Prozess des achtsamen Erlebens dieser Wut kann zu einer De-identifikation (Ent-identifizierung) mit der Wut führen. Damit verbunden ist oft eine zunehmende innere Freiheit.

Du hast Menschen durch dieses schwarze Loch geführt. Wie beschreiben Menschen diesen Prozess? Was bedeutet der Prozess, durchzufallen?

Als erstes müssen wir akzeptieren, dass es diese Möglichkeit gibt, aus der Breite auszusteigen, um sich tieferen Dimensionen zu öffnen. Es gibt diesen Pfad nach unten, der zu einer Lösung von bisherigen Anbindungen und Verhaftungen führen kann.

Ist das immer ein plötzlicher Effekt oder gibt es da eine langsame Entwicklung?

Es kann beides sein, manchmal gibt es eine Klarheit aufgrund von Ereignissen wie einem Unfall, einer Erkrankung oder einer Todeserfahrung, oft ist es ein langsamer Prozess. Aber es kann auch plötzlich, spontan geschehen.

Könnte man es mit einer Nahtoderfahrung vergleichen oder wo sind die Unterschiede?

Absolut – der Hauptpunkt ist, dass man auf eine andere, tiefere Dimension von Leben kommt und das ermöglicht ganz andere Perspektiven. Wenn man spürt, dass man nur noch ein paar Sekunden zu leben hat, wird die Neurose uninteressant. Auch wenn man krank ist, hat man oft keine Energie für die Neurose.

Welche Erfahrungen in Deinem persönlichen Leben haben zu diesen Entdeckungen geführt?

Es gab häufiger diese spontanen Ereignisse. An einem Tag saß ich irgendwo und hatte meine Augen geschlossen und da war ein Sinken, nichts Besonderes. Ich sinke ein paar Minuten und dann konnte ich meine Augen trotz aller Mühe nicht öffnen, da war eine Art kompletter Lähmung verbunden mit der inneren Botschaft: Bleib an diesem Punkt. Es war schockierend, dieses Sinken in das schwarze Loch, es gab dabei keine Wahl. Dann habe ich einen sich weitenden unendlichen Raum wahrgenommen. Diese Erfahrung war beeindruckend. Deswegen versuche ich, andere an diese Erfahrung heranzuführen und zu vermitteln, dass schwierige Erfahrungen einen Lehrstoff beinhalten. In der Hingabe an schwierige Erfahrungen können sich tiefere Dimensionen öffnen.

Man bezeichnet diesen Prozess heute oft als einen Prozess des Aufwachens – würdest Du es auch so bezeichnen?

Ja, aber Worte sind hier nicht so wichtig.

Kommt das in die Nähe einer Erleuchtungserfahrung?

Wir benutzen diese Worte zu oft. Erleuchtung in dem Sinne, ständig in diesem Licht zu leben und verbunden zu sein mit einer Art absoluter Freiheit von allem, was eine persönliche Identität ausmacht, ist extrem selten.

Wenn nun jemand durch diesen Prozess gefallen ist, fängt es doch eigentlich erst an?

Es ist wichtig, an diesen Punkt zu kommen. Das EGO als selbstsüchtiges Ich steht dann nicht mehr im Zentrum der Lebensimpulse. Es wird unwichtig als Träger von Identität, stellt sich aber in den Dienst zur Organisation des praktischen Lebens. Ich muss es nicht bekämpfen, zerstören oder seinetwegen den Körper gering achten. Der Körper trägt uns durch dieses Leben. Ich sehe ihn oft als einen Leihwagen – manchmal haben wir einen Leihwagen mit nur drei Reifen, er ist nicht perfekt.
Auch interessant: Unsere Kinder sind nicht unsere Kinder! Im Leben wollen wir uns mit etwas identifizieren, mit Materie, mit Menschen, mit Familie, das ist von der psychologischen Seite her gut zu verstehen. Die alten Traditionen haben das Spirituelle oft außerhalb von Familie angesiedelt. Es geht aber heute um einen Mittelweg. In der Familie, aber frei von Familie, in der Welt, aber frei von der Welt. So hat es Christus auch gemeint.

In Indien ist es oft so, dass jemand ein Familienleben führt und danach seinem spirituellen Ruf folgt.

Das ist der klassische Weg. Doch warum verfolgen wir nicht diesen Bewusstseinsprozess in tiefere Dimensionen, der eine bestimmte Haltung erzeugt. Das geschieht unterhalb der Ebene des Verstandes und kann nicht ausgedacht werden.

Deine Arbeit speist sich aus einer Verbindung von Spiritualität, Psychologie und Physik – was ist der Anteil der Physik an Deiner Arbeit?

Ich war von der Relativitätstheorie u. Quantenphysik angezogen, weil meine Arbeit auf Energie basiert. Die Prozessoren der neuen Quantencomputer können in verschiedenen Ebenen und Stufen gleichzeitig operieren. Dabei entsteht Bewusstsein aus verschiedenen Qualitäten von Informationsfrequenzen, die Energie bewegen.

Könnte man sagen, Energie und Information sind die bestimmenden Elemente?

Das ist richtig. Bewusstsein ist ein System von verschiedenen Informationsebenen in einem System. Und es gibt zwei Elemente des Fassungsvermögens: Das eine ist dynamisch, das andere statisch. Statik bedeutet: Wie viel Wasser kann ich in eine Tasse schütten? Die Dynamik ist: Wie viel kann ich hinein und heraus lassen? Es scheint eine Tendenz in unserem Leben zu geben: Wir sammeln, aber wir geben nicht weiter. Es wäre wichtig, zunächst allem, was da ist, im Bewusstsein Raum zu geben. In einem umfassenden Bewusstsein hat alles Raum, weil es nicht deins ist.
Neulich war in einem Seminar eine Teilnehmerin sehr skeptisch. Sie sagte: Nein, das kann nicht alles sein, Energie und Bewusstsein. Wir haben mit einer Körperarbeit begonnen, der Körper begann zu vibrieren, am Ende des Tages war sie begeistert über diese neue Erfahrung, die zu mehr Energie und neuen Einsichten führte.

Bleiben wir bei dem Element des Vibrierens – kann das geschehen, wenn das EGO ein Stück zurücktritt?

Wir müssen das EGO verstehen als zwei Elemente: das selbstsüchtige ICH und das dienende ICH. Das Vibrieren ist Teil des lebendigen Bewusstseins. Festhalten geschieht im Kopf und drückt sich im Körper aus. Wenn jemand für Erfahrungen bereit ist, kann er sich diesem Prozess überlassen. Wenn wir vibrieren, lösen sich Teile des selbstsüchtigen ICHs auf und das unterstützende dienende Ich wird energetisiert.

Entscheiden sich die Teilnehmer Deiner Seminare für eine längere Lernzeit bei Dir?

Das ist unterschiedlich. Manche Menschen kommen ins Seminar und sagen: Ich habe so viel zu bearbeiten, ich muss langsam anfangen. Oder aber: Ich habe gerade etwas verstanden. Es hat mich tief berührt und ich mache weiter.

Du hast einmal gesagt, Menschen, die meditieren, folgen häufiger einem psychologischen Bedürfnis als einem spirituellen. Wie kann ich das verstehen?

Ja, sie folgen einer Idee: Heute ist Meditieren an der Reihe, doch der Verstand sagt, ich sollte zunächst etwas anderes tun. Da sind ständig quälende Gedanken. Ich empfehle deswegen, in einem Prozess zu erforschen, was kommt und auftaucht. Da könnte man den Kampf beobachten und innerlich erforschen: Wogegen richtet sich der Kampf? Was will die Angst nicht akzeptieren? Wenn ich etwas akzeptiere, ist alles in Ordnung. In der psychologisch ausgerichteten Meditation bleibt der Verstand involviert, in der spirituellen entsteht mehr ein innerer Bewusstseinsraum mit der Offenheit, dass das, was kommt, Teil einer spirituellen Botschaft sein kann. Diese Haltung: zu erforschen, was gerade ist und es dann loszulassen, führt tiefer, ohne dass es zwischen verschiedenen Ebenen hin und her wechselt.

Deine Ausstrahlung ist liebevoll, zentriert, kraftvoll und klar. Welche persönlichen Anstrengungen und welche Lebensumstände haben zu diesem so gewordenen Organismus geführt? Gibt es da etwas, wo Du sagen würdest, das war wesentlich?

Ich hatte, soweit ich mich erinnere, immer ein Gefühl für diese Dinge. Als jüngerer Mensch habe ich körperlich hart gearbeitet. Ich bin Lastwagen gefahren, habe als Maurer gearbeitet und Wohnungen geputzt. Ich habe manchmal 120 Stunden pro Woche gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereit, alles zu machen in der Haltung: Ich bleibe dran, egal was da ist. So konnte ich viel über Hingabe lernen.
Mit der Zeit entwickelte sich eine Art erfahrungsbasiertes inneres Vertrauen. Viele Leute vertrauen ihrer Fantasie, das ist sehr begrenzt. Im Englischen gibt es sowohl „faith“ wie „believe“, wobei „believe“ sich eher auf eine Idee bezieht, während „faith“ bedeutet: Ich hoffe, dass es stimmig ist, in dem Sinne: Ich vertraue darauf, dass Gott es gut mit mir meint. In diesem Verständnis habe ich nie nur „geglaubt“, sondern eine größere Ganzheit und bedeutsame Welt erfahren können.

Du hast den Begriff  „Essential Inquiry“ entwickelt, der „wesentlichen Erforschung“. Was bedeutet das?

„Essential Inquiry“ bedeutet die innere Erforschung von wesentlichen Themen. Das Gute an diesem Prozess ist: Man beginnt bei welchem Punkt auch immer, z.B.: Ich trinke Tee, ich spüre einen Widerstand –  Das kann körperlich sein.
Oder ich empfinde Schmerz im Bein und ich frage: Wer empfindet diesen Schmerz? Vielleicht kommt dann ein Widerstand: Nein, ich will diesen Schmerz nicht haben, und dann forschst du tiefer. Dann kommt vielleicht ein Bild oder eine andere Botschaft, da ist eine Person, die leidet, die verletzt ist, und Du findest heraus, dass das schon  längst vergangen ist, aber immer noch auftaucht.
So folge ich Schritt für Schritt dem Pfad der Energie der Verletzung.

Was wäre Deine Empfehlung für den spirituell nach Antworten Suchenden? Was ist die Essenz Deiner Lehre?

Ganz einfach:
Hör auf zu suchen! Suchen ist nur für Süchtige! Alles ist schon da. Ich begegne vielen Suchenden, aber nur wenig Findenden. Das Leben gleicht einer Lernschule. Die Lernprozesse sind da, wir könnten ihnen in einer Haltung von Hingabe und Dankbarkeit begegnen. Das wird möglich, wenn wir Tempo raus nehmen, entschleunigen und nicht versuchen, soviel zu tun, zu machen. Sei aufmerksam für die Dinge, die vorprogrammiert sind. Es kann sein, dass Menschen Struktur brauchen, doch oft verhindert diese Struktur die Bewegung, die spontan auftauchen möchte. Viele sind damit beschäftigt, herauszufinden, was der richtige Weg ist und ihn zu finden. Man könnte aufmerksamer werden für den „Path of No Way“ (Pfad des Nicht-Weges).
Die wesentlichen Fragen lauten: Wer bin ich? Warum bin ich hier? Diese Fragen finden möglicherweise Antworten auf tieferen Bewusstseinsebenen verbunden mit den Qualitäten von Resonanz, Stimmigkeit und der Rückverbindung zum Wesentlichen.?

Wie könnte ein Bewusstseinszustand aussehen, der sich mehr in der Tiefe verankert? Du hast einmal gesagt: „Freude im tiefsten Sinn ist ein Zustand von Leichtigkeit und Frieden, in dem das Herz frei und der Geist leer von ”Ich”-Gedanken ist.“ Ist dieser Zustand ein Merkmal dafür, dass jemand aus einer tieferen Ebene heraus lebt?

Absolut. Ohne das Element von „sich wichtig fühlen“ als psychisches Merkmal gibt es weniger Anhaftung und Aufregung im Körper. Dieser Zustand von Leichtigkeit ist verbunden mit einer grundsätzlichen Ruhe in den Gedanken Dabei geht es mehr um eine direkte Erfahrung mit der Welt in der Gegenwart.

PLK: Stephano, ich danke Dir für dieses Interview.

 

Über Patricia Lüning-Klemm
Nach ihrem Studium der Psychologie, Germanistik und Romanistik (1. und 2. Staatsexamen) in Münster, Paris und Gießen war sie beruflich in Kliniken, an Schulen und bei einem Bundesverband tätig. Sie nahm an zahlreichen Aus- und Fortbildungen in Psychoanalyse, Gruppendynamik, systemischer Beratung sowie humanistischer und transpersonaler Psychologie teil. 2011 lernte sie die Arbeit von Christian Meyer kennen, die es ihr ermöglichte, bisherige Muster und Prägungen loszulassen und sich immer öfter dem inneren Raum von Stille und Frieden zu überlassen.
www.patricia-luening.de

 

Dr. Stephano Sabetti
Spiritueller Lehrer, entwickelte den Path of No Way®, Essential Inquiry und Process Meditation; Gründer des Path of No Way® Heartfulness TrainingTM. Er wurde inspiriert durch die Lehren von Ramana Maharshi, J. Krishnamurti und den 16. Buddhisten Karmapa (RigpeDorje). Er ist Doktor der Counseling Psychology und u.a. trainiert in: Akupunktur, Shiatsu, Yoga und Kampfkünsten. Stèphano ist der Begründer des Life Energy Process® mit Formen in Körperpsychotherapie, Expressive Arts, Beratung, Pädagogik u. a.
www.heartful.one   

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