Trauma und Retraumatisierung – Christine Lemmrich

von Thomas
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Die Heilpraktikerin für Psychotherapie und Dipl. Sozialpädagogin beschreibt in diesem Artikel ihren eigenen Weg von der Betroffenen – sie erlitt eine Retraumatisierung – zur Therapeutin.

Von Christine Lemmrich

Anfang 2007 erlitt ich während einer misslungenen Familienaufstellung durch einen „Technikfehler“ (stark vereinfacht ausgedrückt) eine schwere Retraumatisierung. Bis zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich erfolgreich in meiner Coachingpraxis und als Dozentin, war begeisterte Mutter von zwei Kindern. Ich war eine starke Frau, die ihren Weg ging, intensiv an sich arbeitete und sich ihrer eigenen Traumatisierungen, die immer mal wieder durch Symptome aufflackerten, bewusst war. Dies alles sollte sich quasi über Nacht durch diese misslungene Familienaufstellung ändern. Zwei Tage nach der Aufstellung erkannte ich mich nicht wieder – ich bekam massive Angstzustände, kombiniert mit einem stark dissoziierten und depersonalisierten Erleben, konnte nicht mehr schlafen und hatte im gesamten Körper Schmerzen. Mein gesamtes Nervensystem war übersensibilisiert.

Keiner wusste was mit mir passiert war, ich eingeschlossen. Mein Verstand funktionierte tadellos, aber ich war nicht mehr die selbe. Es vergingen Monate mit unzähligen Therapeuten und Heilern, inklusive Klinikaufenthalten, bis die Diagnose „Retraumatisierung“ fiel. Ein Begriff, der damals noch ziemlich unbekannt war.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, hier ein kurzer Exkurs zum Thema „Trauma“ und „Retraumatisierung“.

Laut Peter A. Levine, einem der bekanntesten Traumaexperten und dem Begründer von „Somatic Experiencing“, lässt sich das Phänomen Trauma nicht wirklich konkret definieren. Er geht davon aus, dass ein Trauma durch Ereignisse verursacht wird, die für den betreffenden Menschen großen Stress erzeugen. Dieses Ereignis bewegt sich außerhalb normaler menschlicher Erfahrungen.
Solche stresserzeugenden Ereignisse können sein:
* Gewalterfahrungen
* Sexueller Missbrauch
* Kriegserlebnisse
* Schwere Unfälle und Unglücke wie beispielsweise Erdbeben, Tsunamis, Flutkatastrophen
* Der Tod eines geliebten Menschen

Wichtig ist dabei: Es müssen nicht immer, aus der Perspektive eines neutralen Beobachters betrachtet, die ganz schwerwiegenden Ereignisse sein, die traumatisieren. Schon ein Sturz vom Fahrrad kann unter entsprechenden Umständen traumatisierend wirken. So sagt Levine, dass selbst eine Aneinanderreihung scheinbar harmloser kleiner Missgeschicke bei einem Menschen eine langfristig schädigende Wirkung haben kann. Nach Levines Erfahrung entsteht eine Traumatisierung dadurch, dass unsere Fähigkeit, mit einer als bedrohlich wahrgenommenen Situation umzugehen, nicht funktioniert. Zusammenfassend kann man sagen, dass es bei einem Trauma um den Verlust der Verbindung zu uns selbst, unserem Körper, unserer Familie, anderen Menschen und zu der uns umgebenden Welt geht. Dabei kann dieser Verlust auch langsam, völlig unbemerkt vor sich gehen. Das bedeutet, ein Trauma kann Auswirkungen haben, die jahrelang nicht oder nur in abgemilderter Form in Erscheinung treten, wie es bei mir vor der Retraumatisierung auch der Fall war.

Normalerweise organisiert sich die Psyche nach einem Trauma so, dass der Betroffene überlebensfähig ist. Das erfordert das Abspalten der Erinnerungen und aller damit verbundenen Gefühle ins Unbewusste. So kann ein traumatisiertes Kind, beispielsweise nach einem Missbrauch, mehr oder weniger funktionieren und hat „nur“ Symptome wie Bettnässen, unbegründete Ängste, kann nicht mehr Einschlafen, leidet unter psychosomatischen Erkrankungen (das sind nur Beispiele, nicht jede Angst oder psychosomatische Erkrankung hat mit Traumata zu tun). Als Erwachsener hat dieser Mensch dann häufig keine Erinnerungen mehr an das Erlebte.

Folgende Symptome können im Erwachsenenalter auf einen früheren, möglicherweise nicht mehr erinnerten sexuellen Missbrauch hinweisen (die Liste ist bei Weitem nicht vollständig):
* Essstörungen
* Angststörungen
* Depressionen
* Schlafstörungen
* Promiskuitives Verhalten
* Beziehungsstörungen
* Psychosomatische Erkrankungen
* Selbstverletzung
* Neigung zum Selbstmord

Bei einer Retraumatisierung werden nun die lange etablierten Abwehrmechanismen außer Kraft gesetzt, sodass es zu einer Überflutung mit altem Traumamaterial kommt. Der betroffene Mensch hat bei einer Retraumatisierung Gefühle, Bilder, Körperempfindungen und Wahrnehmungen, als ob er in diesem Moment direkt die alte Traumatisierung erneut durchleben würde. Er ist diesen Symptomen hilflos ausgeliefert und erkennt sich selbst, sein Erleben, seine Gefühle und seine Reaktionen nicht wieder. Bei einer Retraumatisierung geht ein Mensch wirklich “durch die Hölle.”

Es ist schwierig, nach einer Retraumatisierung wieder gesund zu werden. Menschen mit einer Retraumatisierung bleiben oft zeitlebens eingeschränkt, sind nicht mehr erwerbsfähig, und so fort. Man sagt, dass das Gehirn nach einer Retraumatisierung mindestens zwei bis drei Jahre braucht, bis eine Rückintegration des Materials erfolgt. Die Heilung einer Retraumatisierung unterliegt völlig anderen Abläufen als ein normaler Heilungsprozess. So braucht sie viel mehr Zeit.

Die oben genannte Zeitspanne kann ich aus meiner eigenen Erfahrung nur bestätigen, es brauchte lange Zeit und intensivste Therapien, um wieder gesund zu werden. Ich lernte alle Therapien kennen, die es auf dem Markt gab. So wurde ich selbst zur „Traumaexpertin“, die ihren ganz eigenen Weg der Heilung finden musste.

In jedem Fall geht es zunächst darum, den traumatisierten Menschen so zu stabilisieren und ihm wieder so viele Ressourcen zur Verfügung zu stellen, dass er in der Lage ist, sich mit dem an die Oberfläche drängenden Material auseinanderzu-setzen und die aufkommenden Gefühle zu verkraften. Tatsächlich müssen für die meisten Menschen selbstverständliche und alltägliche Ich-Funktionen oft Stück für Stück wieder mühsam aufgebaut werden. Beispiele dafür sind: Allein sein zu können, ohne Angstzustände zu leben, wieder einigermaßen normal schlafen zu können, nicht das Gefühl zu haben, von Gefühlen wie Angst oder Trauer überflutet zu werden etc. So lautet die Grundüberzeugung traumatisierter Menschen: „Ich halte meine Gefühle nicht aus. Ich überlebe diese Gefühle nicht.“

Bei einer Retraumatisierung erlebt der Mensch ein oft völlig verändertes Denken und Fühlen. Er wird zum Beispiel so von Angstgefühlen überflutet, dass es kaum noch einen angstfreien Augenblick gibt. Offensichtlich werden durch solche länger anhaltenden Erfahrungen die neuronalen Verknüpfungen im Gehirn so verändert, dass – obwohl vielleicht inzwischen eine therapeutische Aufarbeitung des Geschehens begonnen wurde – ein angstfreies Denken kaum mehr möglich ist. Traumatisierte Menschen meiden angstauslösende Situationen, sogenannte “Triggerpunkte” (Angstauslöser). Das kann eine bestimmte Farbe sein, ein gewisser Geruch und ist individuell völlig unterschiedlich. Dieser Mensch gerät dann leicht in einen akuten Angstzustand hinein, ohne zu wissen warum. Denn oft  ist es gar nicht möglich diese Triggerpunkte zu erkennen.

Traumatherapieverfahren – was hilft

Den einen, ganz klaren Weg aus der Traumatisierung gibt es nicht. Häufig ist eine Kombination verschiedenster Verfahren nötig, um eine dauerhafte Verbesserung und Heilung zu bewirken. Das kann ein längerer Weg sein, der auch immer mal wieder von Rückschlägen begleitet ist. Doch er lohnt sich. Ich bewundere jeden Menschen, der ihn geht. Manchmal ist erst ein Klinikaufenthalt in einer guten Klinik nötig, bevor eine ambulante Traumatherapie begonnen werden kann, denn für diese muss zumindest eine gewisse Stabilität beim Klienten vorhanden sein. So müssen auftauchende Gefühle  auch zu Hause ohne Schutzraum gehalten werden können.

Herkömmliche, von den Krankenkassen finanzierte Therapieverfahren können bei Trauma nur bedingt greifen.

Die bekanntesten und effektivsten Traumatherapieformen sind: „Somatic Experiencing“ nach Dr. Peter Levine,  EMDR/Eye Movement Desensitization Reprocessing und nicht zu vergessen die vom Urgestein der Traumatherapie, Luise Reddemann begründete Psychodynamisch-Imaginative Traumatherapie, kurz PITT genannt. Leider müssen diese Therapieformen oft aus eigener Tasche bezahlt werden.

Mir selbst haben ganz unterschiedliche Verfahren auf meinem Heilungsweg geholfen, allen voran „Thetahealing“ und „Somatic Experiencing“.  So konnte ich mit „Thetahealing“ eingefahrene neuronale Verbindungen im Gehirn so verändern, dass ich nicht mehr in die quasi gleichen „Denkspuren“ einer fast zwanghaften „Angst vor der Angst“ lief. Ein weiterer Meilenstein war und ist „Somatic Experiencing“  (SE). „Somatic Experiencing“ war genau das Teilstück, was mir in all´ den Jahren meiner Heilung gefehlt hat und was den Abschluss und Durchbruch bringen sollte.

Was ist nun „Somatic Experiencing“ (kurz „SE“)? Dazu ein Zitat von Dr. Peter Levine, dem Begründer von „SE“:
„Ein Trauma ist im Nervensystem gebunden. Durch einschneidende Ereignisse hat es seine volle Flexibilität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spannbreite und Kraft zurück zu finden.“

„Somatic Experiencing“ arbeitet primär über Sprache direkt am Nervensystem. Biologisch bedingt gibt es drei Möglichkeiten, genau wie in der Tierwelt, wie wir auf ein überwältigendes Ereignis reagieren können: Flucht,- Angriff- und Totstellreflex. Das heißt, unser Organismus stellt uns während einer Traumatisierung in hohen Maße Überlebensenergie zur Verfügung. Gerade durch den rationalen Teil unseres Gehirns ist es uns häufig nicht möglich diese Energie wieder abzubauen, zum Beispiel durch Zittern.

Beispiel: eine Antilope wird von einem Löwen verfolgt, sie flieht, aus welchen Grund auch immer lässt der Löwe von ihr ab, daraufhin zittert die Antilope sich aus und die mobilisierte Energie, die für den Überlebenskampf dringend nötig war, verlässt ihren Körper. Das ist uns Menschen durch unseren rationalen Teil des Gehirns häufig nicht möglich, oft lassen die Umstände eine solche Abreaktion auch nicht zu.

Beispiel Autounfall: im Krankenwagen noch werden Beruhigungsmittel verabreicht, diese wiederum verhindern eine Abreaktion des Körpers, wie sich auszittern, die überschüssige Energie bleibt im Nervensystem gebunden. Der Organismus entwickelt Symptome wie bereits beschrieben. Damit arbeitet „Somatic Experiencing“. Durch „SE“ wird der während der Traumatisierung nicht vollständig durchlaufene Zyklus von Orientierung, Flucht, Kampf und Immobilitätsreaktion zum Abschluss gebracht, die gebundene Energie verlässt das Nervensystem. Es kommt kleinschrittig zu einer Neuverhandlung im Nervensystem. Der Mensch gewinnt wieder seine volle Lebendigkeit und Lebensenergie zurück. Das in meiner Praxis zu sehen, gerade auch bei Menschen, die einen langen Leidensweg hinter sich haben, ist mir eine große Freude und treibt mich an.

Von Christine Lemmrich

Die Heilpraktikerin für Psychotherapie und Dipl. Sozialpädagogin Christine Lemmrich arbeitet als Traumatherapeutin in eigener Praxis in Berlin, mit dem Schwerpunkt “Posttraumatische Belastungsstörung” und berät auch am Telefon. “Autorin des Buches “Theta-Balance”, erschienen 2012 im MensSana Verlag

www.traumatherapiepraxis-berlin.de

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2 Kommentare

Renate Pade 9. Juli 2014 - 16:10

Vielen Dank für diesen aussagekräftigen Artikel. Ich habe auch schon erlebt wie sich eine Retraumatisierung anfühlt und es ist schrecklich. Bei mir war es auch nach einem “Kunstfehler” bei einer Familienaufstellung. Ich kenne sehr viele Therapieansätze und habe mich für einiges geöffnet, das war nicht immer gut !…………….heute bin ich total vorsichtig. Allerdings hat es mir den Weg bereitet und mich geprägt in meiner Arbeit als Cranioscral Praktizierende vor allem bei Babys höchste Achtsamkeit, Empathie und Demut zu erreichen. Mit EMDR und SE habe ich bei mir sehr gute Erfahrungen gemacht und nun werde ich mir das Buch von Christine Lemmrich kaufen und sie, wenn die Zeit reif ist um einen Termin in ihrer Praxis bitten.

Alice Gehrmann 13. April 2014 - 13:35

Interessant ! Ich begrüße es, dass so viele verschiedene Themen zur Sprache kommen, also ist doch für Jeden etwas dabei, was ihn interessiert.
Danke.

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