Reinkarnation (lat. „Wiederverkörperung“)
Begriff, der durch den Einfluss → buddhist., → hinduist. und → theosophischen Denkens Einzug in unsere Kultur gehalten hat. Die christl. Meinungsführer früherer Jahrhunderte verwarfen den Glauben an eine persönliche Wiedergeburt oder die Seelenwanderung (→ Seele). Ihrer Meinung nach hatte der Sohn Gottes durch sein Opfer die Menschheit von der Erbsünde erlöst, sodass jedes Streben des Menschen der Einheit mit dem göttlichen Reich dienen sollte. Allerdings wurde die Idee der Wiedergeburt im Leben von den evangelischen Christen in den USA wiederbelebt, die sich durch eine neue Hinwendung zum Glauben an die erlösende Kraft Jesu als „wiedergeborene Christen“ bezeichnen.
Im Mittelalter, als die sozialen und gesellschaftlichen Umstände das Erdendasein für die meisten Menschen sehr schwer machten, strebten viele → Mystiker zur Heimkehr in die göttlichen Gefilde des Jenseits; der Abstieg in die „Unterwelt“ der Erdgöttin (→ Göttin) war für sie eine Erfahrung der → Hölle, der sie durch mystische Übungen und Selbstkasteiungen zu entkommen versuchten. So wurde das Reich der Göttin Hel (die „Helle“, später Frau → Holle), die viele Jahrtausende davor bereits im schamanischen Weltbild wurzelte, von den christl. Patriarchen mit dem Begriff der Hölle ins Gegenteil verkehrt.
Nach der wissenschaftlichen Revolution und der Aufklärung suchten viele wieder nach dem geistigen Halt, der in einer zunehmend materialistischen Welt verloren gegangen war. Deshalb konnten in den letzten 150 Jahren hinduist. und andere östliche Glaubenssysteme, die einen Kreislauf der Wiedergeburten lehrten, im westlichen Denken Fuß fassen. Reinkarnation und → Karma sind zentrale Glaubensbestandteile dieser Lehren, die vermutlich dazu beitrugen, dass inzwischen Umfragen zufolge bereits 20% der Deutschen an Reinkarnation glauben. Sogar der Islam kennt die Vorstellung einer Wiedergeburt. Der Gläubige und besonders der Märtyrer gehen dabei ins islamische Paradies ein, das ein glückliches und sogar erotisch erfülltes Leben nach dem Tode verspricht. Kein Wunder, dass die islamischen Märtyrer immer wieder großen Zulauf haben. Versprochen ist ihnen zwar keine Wiederkehr ins körperliche Leben, aber dennoch eine Art „Wiedergeburt“.
Auch im → Hinduismus und → Buddhismus, in denen die Lehren der Reinkarnation ihre philosophische Ausprägung erhalten haben, haben sich viele abergläubische Vorstellungen eingeschlichen. Schon vor Gautama → Buddha glaubte man an die Wiedergeburt in Gestalt eines Tieres. Buddha selbst wollte mit diesen Lehren allerdings nichts zu tun haben. „Natürlich gibt es Wiedergeburt“ sagte er sinngemäß, „doch mir geht es darum, den Kreislauf der Wiedergeburten zu durchbrechen.“
Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade erwähnt, dass zu den fünf hohen Wissenschaften des Yoga die Fähigkeit gehöre, sich der Vorexistenzen zu erinnern (→ Reinkarnationstherapie). Patanjali (→ Raja-Yoga) zählt sie zu den Vollkommenheiten, und auch Buddha selbst erkennt sie wiederholt an. „Der Buddha weigert sich jedoch, die philosophischen Folgerungen zu akzeptieren, welche von den samana [den ‚Gläubigen’] und den → Brahmanen aus der Erinnerung an ihre Vorexistenzen gezogen werden, nämlich die Ewigkeit des Selbst und der Welt“ (Mircea Eliade 1977, 189) Doch den Yogis geht es nicht um die psychologische Betrachtung der Vorexistenzen, sondern um etwas anderes. Eliade interpretiert die Übung so:
„Sinn und Ziel dieser yogischen Technik, in welcher die Zeit nach rückwärts abgerollt wird, ist unschwer zu verstehen. Man erreicht dadurch die wirkliche Hohe Wissenschaft, denn man vermag nicht nur alle früheren Existenzen wieder zu erkennen, sondern man gelangt bis zum ‚Anbeginn der Welt’; wer ‚gegen den Strich’ immer weiter zurückgeht, muss notwendig auf den Ausgangspunkt kommen, der letzten Endes mit der → Kosmogonie, mit der ersten kosmischen Manifestierung zusammenfällt … Man kommt zum Beginn der → Zeit und erreicht wieder die Nichtzeit, das ewige Gegenwärtige, das dem durch die erste gefallene menschliche Existenz begründeten zeitlichen Erleben voranging.“ (Mircea Eliade 1977, 193; → Ewigkeit)
Die Erinnerung an frühere Leben könnte aber auch aus einem anderen Bewusstseinsbereich kommen, der nicht vom Gehirn abhängig ist. In diesem Falle ist das Gehirn Empfänger aus anderen Frequenzen des → Bewusstseins. Ein Mensch erlebt dann Bruchstücke von Lebensumständen und Zeiten, die nicht er persönlich erlebt hat, sondern die in einem → Bewusstseinfeld gespeichert sind. Diese Erinnerung hat aber nichts mit früherer persönlicher Erfahrung zu tun.
Vor allem in Indien verblüffen Kinder durch Erinnerungen an frühere Leben. Detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen bei 250 Fällen, die durch Polizeiakten und Obduktionsergebnisse verifiziert wurden, zeigten, dass 49% der untersuchten Fälle von wiedergeborenen Kindern, die sich genau an ihr früheres Leben erinnern konnten, in ihrem vorherigen Leben eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Ein interessanter Fakt, denn gerade Kinder sind sehr offen für das → Bewusstseinsfeld und können leichter als Erwachsene ungefiltert Informationen bzw. Einflüsse aus diesem Bereich aufnehmen; man kann es auch als eine Art → „Besessenheit“ bezeichnen (→ Reinkarnationstherapie). Besonders interessant dabei sind die gewaltsamen Umstände des Todes im Vorleben. Es scheint, dass gerade die „unerlösten“ Seelen dieser Kinder einen starken Drang haben, sich mit einem neuen Körper zu verbinden oder eine Verbindung damit herzustellen. Verifizierte Reinkarnationsberichte von Erwachsenen über 30 Jahre gibt es dagegen kaum.
Der indische Weise Sri → Aurobindo hält die gewöhnliche Auffassung von Wiedergeburt für einen „Irrtum des physischen Mentals“, des persönlichen Bewusstseins. Er argumentiert: „Die Vorstellung von der → Seele selbst, sie sei eine begrenzte Persönlichkeit, die unverändert von einer Geburt zur anderen überlebt, ist eine allzu einfache und oberflächliche Vorstellung von Seele“ (Sri Aurobindo 1974). Nach seiner Auffassung müsste der oder die Wiedergeborene nicht nur das gleiche spirituelle Wesen und die gleiche physische Wesenheit sein, sondern auch dieselbe Gestaltung der Natur wie im vorigen Leben. Der Körper würde sich bei dieser Vorstellung vielleicht ändern und die Lebensumstände, aber sonst bliebe alles beim Gleichen. Da wäre dann „Johann Müller“ in seinem neuen Leben derselbe „Johann Müller“, der er bei der letzten Verkörperung seiner Seele gewesen sei. „Wäre das so, dann hätte die Wiedergeburt überhaupt keinen spirituellen Nutzen und keine Bedeutung. Denn es wäre bis ans Ende der Zeit eine Wiederholung derselben unbedeutenden Persönlichkeit, der gleichen mentalen und vitalen Gestaltung.“ (Sri Aurobindo 1974)
Die übliche Vorstellung von Reinkarnation basiert auf einer strengen Kausalität, die durch die theoretischen Neuerungen der Quantenphysik längst überholt ist. Oberflächlich gesehen erntet der Mensch die Früchte, die er gesät hat. Das Umfeld der Natur ist jedoch so komplex, es gibt unzählige Verknüpfungen von Faktoren, dass diese Kausalität längst sowohl von der Wissenschaft als auch der Geisteswissenschaft als unbrauchbar angesehen wird. Fragwürdig wird diese Aussage im Hinblick auf die unverdienten Ernten, die manchen Menschen – „Guten wie Bösen“ – in den Schoß fallen.
In dieser Hinsicht wirft Reinkarnation in Verbindung mit → Karma auch die Idee einer „kosmischen Gerechtigkeit“ auf.
„Würde Wiedergeburt tatsächlich unter der Herrschaft eines Systems von Belohnungen und Strafen stehen und wäre es die ganze Absicht des Lebens, den verkörperten Geist zu belehren, gut und moralisch zu sein – vorausgesetzt, das wäre die Absicht im Grundprinzip des karma und nicht das, was es in jener Darstellung zu sein scheint, nämlich ein mechanisches Gesetz von Vergütung und Vergeltung ohne jeden erzieherischen Sinn oder Zweck –, dann wäre es offensichtlich große Torheit und Ungerechtigkeit, dem Mental bei seiner neuen Inkarnation jegliche Erinnerung an seine vergangenen Geburten und Handlungen zu versagen. Denn das raubt dem wiedergeborenen Menschen jede Chance, einzusehen, warum er belohnt oder bestraft wird … Gerade weil das Leben oft das Gegenteil zu lehren scheint – er sieht, dass der Gute für sein Gutsein leidet, während der Bösewicht trotz seiner Bosheit Glück hat –, neigt er desto eher zum umgekehrten Schluss. Denn er hat nicht die Erinnerung an ein gesichertes und beständiges Ergebnis der Erfahrung, die ihm zeigen würde, dass das Leiden des guten Menschen durch seine frühere Bosheit und das Glück des Sünders durch den Glanz seiner vergangenen Tugenden verursacht war.“ (Sri Aurobindo 1974)
Das wirft auch die Frage auf, mit welchem Maßstab „Gut und Böse“ gemessen werden. Basieren diese Prinzipien auf einer gerade gültigen Moralvorstellung oder gibt es objektive Maßstäbe von Gut und Böse? Daran haben sich noch alle Philosophen die Zähne ausgebissen.