Jüdische Mystik ist zwar eine Geheimlehre, drang aber zu manchen Zeiten, besonders im Mittelalter, auch nach außen und befruchtete so das europ. Denken. Der kabbalistischen Praxis geht es nicht so sehr um Versenkung und Vereinigung mit dem Höchsten wie in der → christlichen Mystik, sondern vielmehr um eine → Vision oder Erkenntnis seiner Erscheinung. Insofern kann man die Kabbalisten auch als Gnostiker (→ Gnosis) bezeichnen. Die Geschichte hat gezeigt, dass beide Richtungen in vielerlei Hinsicht miteinander verflochten sind.
Den Gnostikern ging es um den Aufstieg der → Seele, die von der Erde durch die Sphären der (feindlichen) Planetenengel und Herrscher (→ Engel) des Kosmos hindurch bis zu ihrer göttlichen Heimat in der Fülle (Pleroma) der Lichtwelt Gottes führt. Ähnlich ging es jüdischen Mystikern um eine „Himmelswanderung“ durch die sinnbildlichen Sphären (→ Sefiroth) zur Schau von Gottes Thron. Für diese „Reise“ bereitete sich der jüdische Mystiker mit langen Fastenübungen, Gebeten und Hymnengesängen durch. Für die Reise selbst wurde eine tiefe Versenkungshaltung eingenommen. Dann sprach man eine „Beschwörungsformel“ (wahrscheinlich → mantrische Wiederholungen eines oder mehrerer Gottesnamen), die wie der → Dhikr der → Sufis eine plötzliche Veränderung des Bewusstseinszustandes bewirkt.
Die Idee der Himmel, durch die die Seele in ihre Urheimat aufsteigt, ist sehr alt. Es kann deshalb gut sein, dass die Sefiroth, die sich im Bild des Adam Kadmon (des männlich-weiblichen Himmelsmenschen, → Kreuz) auf die Physiologie des Feinkörpers und seiner Organe beziehen, eine Konkretisierung der biblischen Aussage „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde“ darstellen. Die Sphären im Bild des Himmelsmenschen aus den „Gleichnissen des Henon“ illustrieren konkrete Punkte oder Lichtsphären am Körper des Menschen. Die → Sufi-Mystiker (die besonders im mittelalterlichen Spanien enge Beziehungen zu den Kabbalisten hatten) bezeichnen diese Punkte als lataif (oder → Latifas); diese wurden durch → Mantras oder Atemübungen (→ Atem, Atemtechniken; → Dhikr) aktiviert, was dem Praktizierenden half, seinen inneren, subtilen Körper zu entwickeln und zu stärken. Es gibt zehn Latifas, von denen sieben den unteren sieben Sefiroth entsprechen. Die mittlere Reihe entspricht außerdem den indischen Energiezentren, den → Chakras, und das höchste Latifa dem Sahasrara, der Krone in den Sefiroth; beide gelten als Eingang des Unendlichen.
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