Weg der wahren Yogis – Dr. Wolf-Dieter Storl

von Thomas

StorlPflanzenTextVerfügen wahre indische Yogis tatsächlich über Zauberkräfte, die uns allen Menschen rein potenziell ebenfalls möglich sind? Der Ethnobotaniker und Autor Dr. Wolf-Dieter Storl spürt den Legenden und Geschichten über indische Heilige nach – hier einige Eindrücke, entnommen aus seinem Buch „Wanderung zur Quelle“

Von Wolf-Dieter Storl

Dem Außenseiter scheint der shivaitische Weg der Wandlung ein unwahrscheinlich schwieriger zu sein. Um die harte Ego-Schale zu knacken, damit das Erkenntnislicht die Finsternis erhellen kann, scheint es, als fügten sich die Fakire und Asketen die schwersten Entbehrungen und Leiden zu. Sie hungern, dürsten, frieren, üben Enthaltsamkeit, sitzen wochenlang, ohne sich zu rühren, oder verrauchen, in Nachahmung ihres Gurus Maha deva, Unmengen von Hanfkraut, das sie in den Augen Unwissender zu Narren macht und das sie selber »Unmatti« (Verrücktheit), »Siddhi« (Zauberkraft), »Shivapriya« (Shivas Geliebte), »Harshini-Weed« (Kraut des Gottes der Totenfeiern), »Vijaya« (Sieg) oder »Himmelstor« nennen.

Die wahren Yogis sind jedoch weder verrückt noch drogenabhängig, noch leiden sie absichtlich. Ihre Konzentration auf das Eine-ohne-ein-Zweites ist so vollkommen, dass sie sich in einem wonnehaften Zustand befinden und dabei die weltlichen »Freuden« leicht vergessen. Dass solche Yogis und Yoginis – ganz objektiv gesehen – außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln, zum Beispiel parapsychologische Begabungen oder bewusste Kontrolle über die autonomen Körpervorgänge, über die glatte Muskulatur, über Herzschlag, Verdauung, Dru?senaktivit.t, Sexualität, Körpertemperatur und Schmerzempfinden, von denen Mediziner lange annahmen, sie seien dem Willen entzogen, ist auch skeptischen Wissenschaftlern nicht entgangen. Da man in einem materialistischen Zeitalter materiell fassbare Gründe dafür sucht, schloss man einige dieser Wundermenschen an Elektroenzephalogramme und andere Messinstrumente an. So wurde festgestellt, dass die beiden Hälften ihres Hirns mit schönen, gleichmäßig langwelligen Alphawellen oder hochfrequentierten Thetawellen, anstelle der für den Wachzustand üblichen Betawellen, pulsieren.

Auch wurde offensichtlich, dass die Yogis es lernen, bewusste Kontrolle über Funktionen auszuüben, die jenseits des Bereichs der dominierenden Großhirnrinde liegen. Absichtlich können sie das entwicklungsgeschichtlich viel ältere limbische System (Mittelhirn) beeinflussen. Ja, sogar noch tiefer bis in den ältesten Kern des Hirns, den R-Komplex und Hirnstamm, erlauben ihnen ihre esoterischen Übungen zu dringen. Diese Teile des Nervensystems, die wir mit den Lurchen und Kriechtieren als gemeinsames vorgeschichtliches Erbe teilen, regeln automatisch Fortpflanzungs- und Erhaltungstrieb, Herzschlagrhythmus, Blutkreislauf und Atmung. Da die Atmung die Schwelle zwischen den willkürlichen und unwillkürlichen Körperfunktionen ist, wird besonders auf sie geachtet. Wie Geigenvirtuosen mit ihren Stradivaris, so gehen die Schüler des großen Yogis Mahayogi-Shiva mit ihrem Nervensystem um. Sie werden nicht von dessen Automatismen beherrscht, sondern lernen Schritt für Schritt, es zu beherrschen.

Als Gegenpol des in sich verkapselten Ego, welches in den Wucherungen der Großhirnrinde seine physische Grundlage findet, ist das ältere Primitivhirn sympathisch mit den Rhythmen und Pulsen der großen Natur verbunden. Die Biorhythmen sind Spiegelungen und Abwandlungen der makrokosmischen Rhythmen (Tag/Nacht, Mondphasen, Jahreszeiten usw.). Das Althirn (Reptilienhirn) ist offen gegenüber »ätherisch-astralischen« Schwingungen, auch wenn diese sich noch gar nicht auf sinnlichphysikalischer Ebene manifestiert haben. Diese Offenheit bedeutet, dass – sofern weder Gedanken noch die Ablenkung durch die nach außen gerichteten Sinne dazwischenkommen – mediale, transpersonale, außersinnliche Wahrnehmungen und Fähigkeiten aller Art zum Vorschein kommen. Dazu gehören Präkognition, Telepathie, das Aufspüren von Energien und Heilkräften und andere magische Begabungen, die dem hartgesottenen Materialisten wie Ammenmärchen vorkommen.

Zu den Kräften, die den Yogis nachgesagt werden, gehören: das Vermögen, den eigenen Leib zu verlassen und in andere Körper einzudringen, zu fliegen und zu schweben, die Sprache der Tiere, Pflanzen und Geister zu verstehen, winzig klein oder riesig groß zu werden, Macht über die Elemente, über Winde, Regen und Stürme auszuüben, Feinde durch einen einzigen Blick zu bannen, durch Wände zu gehen und ferne Gegenstände zu sehen, sich in Tiere zu verwandeln und viele mehr. Siddhi – so nennt man diese wunderbaren Zauberkräfte. Der rechtschaffene Yogi strebt sie jedoch nicht absichtlich an; sie fallen ihm auf seiner Pilgerschaft zu Shiva automatisch zu.

Ebenso wie die Großhirnrinde die unmittelbaren sinnlichen Eindrücke und das nimmer endende Fließen der Gedanken dem Bewusstsein zuspiegelt, so dient das archaische Stammhirn als »Empfangsapparat«, welcher die Urbilder, die das All durchfluten, wahrnimmt. Wer in diesen Tiefen wach wird, dem bevölkert sich die Welt wieder mit den Göttern und Geistern. Wie Shankar- Shiva, so sitzen seine langhaarigen Verehrer an abgelegenen Orten der Einsamkeit, in den Wäldern, den Mooren, auf Stelzen im Ganges oder in einer Höhle und lauschen und schauen.

Die aufgeblähten, hellwachen Kobras, die Shiva als Schmuckdienen, sind Zeichen der Siddhi-Meisterschaft. Die Ruhe des Siddhi-Meisters reizt weder das innere noch das äußere Reptil. Nur so können sie – wie auch die Klapperschlangentänzer der Zuni-Indianer oder die vom Heiligen Geist besessenen Pfingstchristen West Virginias – Vipern und Nattern aufheben, ohne Furcht, gebissen zu werden.

Aber noch tiefer, als es die Gehirnwissenschaftler auch nur ahnen, vermag der wahre Yogi seinen Geist in die Leibestiefen hinein zu versenken. Bis an die Wurzel der Wirbelsäule, bis in die äußersten Ganglien kann er dringen. Sein Fahrzeug ist dabei der Lebensatem (Prana), an den er, in perfekter Konzentration, seinen bewussten Geist heftet. Vorsichtig stimmt er den mondhaften Atem, der durch die linke Nasenhöhle einströmt, mit dem sonnenhaften Atem ab, der durch die rechte Nasenöffnung in den Körper fließt. Auf den Schwingen des Sonnen- und Mondatems schwebt er sachte zum Wurzelgrund unter dem Rückgrat, berührt die dort schlummernde Urschlange (Kundalini) und streichelt sie wach. Behutsam hebt das regenbogenfarbene, schillernde Kriechtier sein juwelengekröntes Haupt und erinnert sich seines hohen Ursprungs. Gefüttert mit Lebensatem, windet sich die Kundalini nun vorsichtig durch den ätherischen Kanal (Sushumna), der das Rückgrat durchläuft, nach oben. Von einer Ebene zur anderen schlängelt sich das giftige Reptil durch die feinstofflichen Energiezentren (Chakras) des Leibes. Bei ihrer Berührung fangen diese zu vibrieren an und blühen auf wie Lotus-Blüten, die die warme Sonne wachküsst. Allmählich verwandelt sich die Schlange dabei in eine herrliche Jungfrau. Sie ist die leuchtende Göttin selber. Sie ist Shivas Shakti, seine welt- und illusionsschaffende Zauberkraft. Als aschebedeckter, wandernder Yogi ist Shiva, ihr Bräutigam, zu ihr in die Tiefen gestiegen und nimmt sie nun mit zum Kailash-Gipfel. Es ist ihre Hochzeitsreise, die durch alle Sphären des Universums führt.

Die untersten Chakras, die sie durchqueren, sind wild, dunkel (»tamas«) und voll unbändiger Chaoskraft. Aber mit jedem Schritt werden sie lichter, reiner und geistiger, bis schließlich das Stirn-Chakra oder Feuer-Chakra (Ajna) erreicht ist, jenes Auge der Weisheit. Dieses Scheitelauge Shivas ist zugleich der alchemistische Ofen, in dem das Gold geläutert wird, der Laserstrahl, den alle Dämonen fürchten, der Scheiterhaufen des Vergänglichen und der Tanzplatz, auf dem Kali ihre Tänze tanzt. Jenseits des Feuer-Chakras, unterhalb der Schädeldecke, erhebt sich der blanke Gipfel des Weltenberges, das Kronen-Chakra (Sahasrara). Hier auf dem Kailash, auf einem Hochzeitsbett aus sanftem, weißem Schnee, aus der weißen, reinen Asche des im Weltenbrand verglühten Karmas, vereinen sich Gott und Göttin, vereinen sich das Allbewusstsein und die Urkraft. Ihre Wonne vernichtet alle Gegensätze! Das All wird Licht – es ist die Erleuchtung!

Untrennbar verschmolzen, als Linga im Yoni, weilen sie hier im ewigen Sat-Chit-Ananda (Wahrheit, Weisheit, Wonne). Von diesem Zustand kündet die »Mundaka Upanishad«:

Der Freude entsprießt alle Schöpfung,
durch Freude wird sie erhalten,
zur Freude bewegt sie sich hin
und in die Freude kehrt sie zurück!

Selbstverständlich ist auch dieses Bild nur eine Vorstellung, denn die Sahasrara, dieser tausendblättrige Lotos, ist »leer«, eigenschaftslos, jenseits geschaffener Zeit, Raum oder Gestalt. Es ist das Nirwana, das »Nichts«, das übrig bleibt, wenn das Weltenfeuer erloschen ist.

Diesen Göttergang im menschlichen Mikrokosmos nachzuvollziehen, nicht die gesteigerte Sexualität, ist das wahre Ziel tantrischer Liebesrituale. Diese innere Hochzeit, nicht die Erlangung der Siddhi-Power, ist Ziel yogischer Selbstzucht. Es kennzeichnet den Zustand der erlösten Seele (Jivanmukti ), die nicht mehr dem kaltblütigen Terror der nackten Existenz ausgeliefert ist und die die schillernde Illusion des Lebens und Sterbens durchschaut hat.

Storl-CoverKleinAuszug aus:

Wolf-Dieter Storl: „Wanderung zur Quelle. Geschichten von Shiva und Parvati“

Koha Verlag

Wolf-Dieter Storl, 1942 in Sachsen geboren, ist Kulturanthropologe
und Ethnobotaniker. Als Elfähriger wanderte er mit seinen Eltern nach Ohio/USA aus und
verbrachte seine Freizeit bereits als Kind in der Waldwildnis. Später schrieb er sich als
Botanikstudent an der Ohio State University ein und wechselte danach zur Völkerkunde. Nach
seinem Abschluss dozierte er an der Kent State University und promovierte zum Doktor der
Ethnologie in Bern. Es folgten Lehrstellen in Wien, Oregon, Genf, Bern, an der Benares Hindu
University und in Wyoming. Zahlreiche Reisen, ethno-graphische und ethnobotanische
Feldforschungen prägten sein Denken. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und gibt Seminare für
Interessierte.

www.storl.de

 

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2 Kommentare

Jürgen Tröge 14. August 2013 - 08:41

Ein wunderbarer gedanklicher Tiefgang, der mich hier zu berührt.
Ein Mann mit großer Ausstrahlung und Ruhe.Seine Wurzeln sind in Sachsen, das freut mich um so mehr.
Jürgen Tröge Nellingen

Sonja 12. Mai 2013 - 09:03

Hervorragender Artikel. Dr. Wolf-Dieter Storl zu lesen kann ich nur empfehlen.

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