Die Wurzeln dieser modernen spirituellen Bewegung in Westeuropa, Russland und den USA finden sich im 19. Jh., als der Mythos vom „Neuen Zeitalter“ wiederbelebt wurde. Da das menschliche Leben immer Schwierigkeiten, Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten unterworfen ist, zieht sich dieser Mythos wie ein roter Faden durch die Geschichte des Abendlands. „Goldenes Zeitalter“, „Garten Eden“, „Utopia“ oder → „Atlantis“ sind Synonyme für einen abgegrenzten, paradiesischen Raum, der den Menschen aus seinen existenziellen Nöten und Zwängen befreien soll.
Ein weiterer Strang der neuzeitlichen Entwicklung ist das kabbalistisch-hermetische Gedankengut der Renaissance (→ Hermetik, → Kabbala). Es führte im 18. Jh. zu Gründung von neuen → Templerorden und den → Freimaurern, deren liberale Grundsätze „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ die überkommenen aristokratischen Herrschaftsformen mittels der Französischen und Amerikanischen Revolution wegfegten und den Boden für die heutigen Demokratien bereiteten. Grundlegende Züge der amerikanischen Verfassung basieren auf der Verfassung der fünf indigenen Irokesennationen. Bis heute finden sich deshalb die Symbole der Freimaurer (Pyramide und Gottesauge) und der Irokesen (Adler) auf dem amerikanischen Dollar.
In Deutschland führte Mitte des 19. Jh. die Industrielle und das Scheitern der politischen Revolution von 1848 zu sozial- und bewusstseinsrevolutionären, sozialethischen Erneuerungsbewegungen. Einer der Revolutionäre von 1848, Eduard Baltzer, wird als Vater der lebensreformerischen Lehre von der naturgemäßen Lebensweise angesehen. Die Genossenschaftsbewegung – die heute noch durch die Volksbanken und andere Genossenschaftsbanken öffentlich repräsentiert wird – wurde aus dem Ausland durch Robert Owen und Charles Fourier stark beeinflusst. Freidenker, Künstlerkolonien, Schulreformer, Anarchisten, Sozialisten und kommunitäre christl. Sekten versuchten, ihre Utopien entweder im Kleinen oder im Großen zu verwirklichen. So entstanden Mitte des 19. Jh. viele Siedlungsgenossenschaften und Landkommunen.
Die meisten Experimente wurden jedoch von einer progressiv ausgerichteten Großstadt-Intelligenz getragen.
„Die individual-reformerischen und bewusstseinsverändernden Ziele waren in eine Heiligung und Reinigung der Einzelperson und der Gesellschaft eingebunden. Die Lebensreformbewegung zeitigte damit nicht nur eine wichtige Sensibilisierung für Fragen der richtigen Ernährung, gerechteren Bodenordnung, Suchtgefährdung und Umweltverschmutzung, sondern verband diese rationalen Ansätze mit chiliastischen Elementen [die Erwartung des ‚Tausendjährigen Reichs Christi’] zu einer merkwürdigen innerweltlich-sendungsbewussten Mentalität, wobei sich diese schwärmerische Neigung stets mit dem kulturellen Führungsanspruch des Bildungsbürgertums in der Gesellschaft verband.“ (Ulrich Linse 1983, 34)
Der Begriff „New Age“ selbst taucht das erste Mal bereits 1843 als Titel einer Zeitschrift der sozialutopischen Gruppe von Ham Common in England auf – genau zu jener Zeit also, als in den USA die ersten alternativen Religionsgemeinschaften entstanden, als die sozialutopischen religiösen Sekten der Mennoniten, Amischen, Hutterer und anderer gegründet wurden, die aus religiösen Gründen Asyl in der Neuen Welt gesucht hatten. Es entstanden dort Hunderte von Gemeinschaften, die zum Teil noch heute existieren. Die Amischen betreiben immer noch eine florierende Landwirtschaft ohne jegliche technische Hilfsmittel; ihr einziges Problem ist der Nachwuchs.
Die soziale Utopie all dieser Gemeinschaften, die auf Kooperation und Selbstversorgung basieren, funktioniert bis heute. Ähnliche Glaubensvorstellungen vieler puritanischer Religionsgemeinschaften dominieren heute sogar die US-amerikanische Gesellschaft.
Viele der Themen all dieser Vorläufer wurden von verschiedenen Strömungen der New-Age-Bewegung des 20. Jh. aufgenommen, seien es die pazifistischen Vereinigungen und die Lebensreform-Bewegung, die Frauenrechtsbewegung, die anthroposophischen Schulen und Biohöfe, die in den Zwanzigerjahren des 20. Jhs. entstanden, die Hippiekommunen in den Sechzigerjahren oder die Ökologiebewegung in den Siebzigern. Es entstehen auch heute noch neue alternative Gemeinschaften zumeist mit einer Mischung aus ökologischen, sexualbefreierischen und spirituellen Grundwerten. Die Offenheit der 1968er-Generation für geistige Experimente, psychedelische und spirituelle Erfahrungen lebt in gewisser Hinsicht noch heute im → Rock ’n’ Roll (und daraus abgeleiteten Musikformen wie Heavy Metal oder Gothic und in der Techno-Trance-Kultur weiter.
Mitte des 19. Jh. entstanden zudem einige neognostische Gesellschaften (→ Gnosis), die großen Einfluss auf das Entstehen und die Ideen eines Teils der heutigen New-Age-Bewegung hatten. Durch Übersetzungen von buddhist., hinduist. und taoistischen Schriften durch Missionare sowie durch Berichte von Ethnologen kamen neue geistige Impulse nach England und Europa, die dort von progressiven Intellektuellen bereitwillig aufgenommen wurden. Es entstanden magische Zirkel, die afrikanisch-spiritistische Elemente integrierten, und das eklektische Weltbild der → Theosophie aus hinduist.-buddhist. Quellen. Großen Einfluss hatte hier die Theosophische Gesellschaft, die 1875 von Madame → Blavatsky gegründet wurde, und die Anthroposophische Gesellschaft, die Rudolf Steiner (→ Anthroposophie) um 1913 ins Leben rief.
In Worpswede bei Bremen entstand um die Wende zum 20. Jh. eine Künstlerkolonie um den Künstler Wilhelm Vogeler und den Dichter Rainer Maria Rilke, in der Schweiz experimentierten um 1905 Freidenker und Reformer um Henri Oedenkoven und Gusto Gräser mit einer alternativen Lebensgemeinschaft, die außerordentlich viele Künstler und Literaten anzog, wie z.B. Hermann Hesse und Paul Klee. Dort, auf dem Monte Verità bei Ascona, wurden auch viele neue kreative Impulse geboren, so etwa der moderne Ausdruckstanz.
Einige dieser freidenkerischen Gruppen waren in Künstlerkreisen sehr beliebt und regten zu Experimenten an, die bis zum Expressionismus und dem Bauhaus führten (→ Kunst). In Russland entstanden in dieser Zeit um die theosophische Bewegung neue Musikstile und Kunstformen. Zeitgleich gab es auch in anderen europ. und asiatischen Ländern Erneuerungsbewegungen und Sekten, die eine entsprechende Anhängerschaft gewannen. Der Einfluss liberalerer spiritueller Richtungen brachte in den meisten Ländern aber auch immer wieder starke traditionalistische Gegenbewegungen ins Spiel – z.B. in Gestalt des Islamismus oder des fundamentalistischen Katholizismus –, die alle freidenkerischen Strömungen bekämpften.
Populär wurde der Begriff „New Age“ erst Mitte der 1970er-Jahre, als er für die verschiedensten Ausläufer der Hippiebewegung den gemeinsamen Nenner bildete. Unter dem Begriff einer „Aquarian Conspiracy“ („Die sanfte Verschwörung“) rückte Marilyn Ferguson 1981 die verschiedenen Strömungen und Experimente zu einer weltumspannenden spirituellen und sozialrevolutionären Erneuerungsbewegung ins Rampenlicht der Medien.
Nachdem infolge der Hippiephase und der Wiederentdeckung der spirituellen Wege die Inhalte des New Age zur so genannten → „Esoterik“ kommerzialisiert wurden, kann man sagen, dass wir heute nun eine dritte Phase der Entwicklung der spirituellen Bewegung erleben. Viele Gedanken wurden Gemeingut und finden sich sogar in Hollywoodfilmen, viele Gruppierungen haben sich fest etabliert und organisiert. Es gibt den Bund Deutscher Yoga-Lehrer, die Buddhistische Union, verschiedene Sufi-Gemeinschaften usw., die meist als öffentliche Vereine bestehen, Internetseiten unterhalten und Suchenden weiter führende Informationen zu Schulen und Ausbildungen geben. Die spirituellen Wege – und selbstverständlich auch → Sekten jeder Couleur – haben sich in unserer pluralistischen Gesellschaft gewissermaßen institutionalisiert.
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