Mystik ist ganz einfach – Wolf Schneider

von Redaktion

mysticeinfachMystik ist oft das Herz oder die Wurzel der Religionen genannt worden. Sie ist jedoch eher das verleugnete Herz und die verkannte Wurzel, denn die meisten Religionen haben sich von Herz und Wurzeln entfernt, oft bis zur Unkenntlichkeit. Außerdem gibt es auch eine atheistische Mystik, zum Beispiel im Buddhismus und Taoismus, aber nicht nur dort. Sogar die konsequent areligiöse Naturwissenschaft steht der Mystik sehr nahe; manchmal scheint es so, als würden nur ein paar begriffliche Missverständnisse die beiden voneinander trennen. Mystik ist vorurteilsfreie Wahrnehmung. Mystifizierung hingegen ist die Verzauberung unsere Sinne durch schöne Worte, Töne oder Bilder.

von Wolf Schneider

Wenn ich die Worte eines Mystikers lese oder höre, spüre ich die Wahrheit darin. Anders gesagt: Ich spüre, dass ich einer von ihnen bin. Seltsamerweise geht mir das bei Texten von Laotse, Rumi, Meister Eckart, Thomas Merton und Osho ähnlich, obwohl diese Menschen doch sehr verschiedenen Kulturen entstammen. Ich »erkenne« sie – oder mich in ihnen. Ich fühle: »Ja, so ist es!«. Seit mehr als dreißig Jahren geht mir das so, seit meinen eigenen mystischen Erfahrungen in Südostasien und Indien, in den Jahren 1976/77, und dieses Gefühl von Verwandtschaft mit den anderen Mystikern hat sich seitdem nicht verändert. Ich habe keinen Zweifel an dieser »Wahrheit«, nur mein Umgang damit hat sich gewandelt – der allerdings beträchtlich. Ich zeige diese Wahrheit heute anders; ich nerve damit nun nicht mehr so oft (hoffe ich), diejenigen, die davon nichts wissen wollen.
»Das Meerwasser schmeckt überall salzig«, hat jemand zu dieser transkulturellen Konstante einmal gesagt. An welchem Ozean auch immer man davon kostet, überall schmeckt es salzig. Es gibt ja nur ein Weltmeer, aus dem stammen wir – wir Menschen und auch alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Deshalb hat unser Blut genau denselben Salzgehalt wie das Weltmeer. Wir können unsere Herkunft aus dem Meer nicht verleugnen.


Mystik versus Mystifizierung

Wenn ich zu Mystikern über Mystik spreche, ist das sehr einfach – sie verstehen mich. Wenn ich zu Nicht-Mystikern darüber spreche, gibt es meist ein großes, typisches und folgenreiches Missverständnis: Sie verwechseln Mystik mit Mystifizierung. Sie empfinden es als »mystisch«, wenn Uri Geller Löffel verbiegt, jemand ein körperloses Wesen channelt oder ein Energieheiler Auren sieht. Soweit die Esoteriker. Und die Wissenschaftler? Neulich las ich von Neurologen, die herausgefunden hatten, dass Akupunktur schmerzlindernd wirkt, aber sie verwahrten sich gegen die »mystische Idee der Energieleitbahnen« (der Meridiane, von denen die traditionelle chinesische Medizin spricht). »Nein, um Himmels Willen bitte nicht diesen esoterischen Hokuspokus«, scheinen diese Wissenschaftler damit zu sagen, »das wollen wir nicht unterstützen!« Dabei ist Mystik kein Hokuspokus. Im Gegenteil, Mystik ist das, was vor aller Verzerrung der Wahrnehmung durch Begriffe und Erwartungen da ist, sie ist vorurteilsfreie Wahrnehmung. (Gibt es das überhaupt? Ich meine ja, zumindest eine Annäherung daran.) Mystifizierung hingegen ist die Verzauberung, der wir erliegen, wenn schöne Worte, Töne oder Bilder unsere Sinne vernebeln und wir dann vor allem das sehen, was wir selbst oder die als charismatisch empfundene Quelle dieser Worte, Töne, Bilder uns sehen lassen will.


Heimkehr

Ja, ich gebe es zu: Ich bin einer dieser Betrunkenen, die nicht genug kriegen können vom göttlichen Nektar, vom Atem, von der puren Sinnlichkeit, vom Dasein. »Man kann nicht tiefer fallen als in Gottes Hand«, sagte Margot Käßmann nach ihrer Alkoholfahrt, die dann zu ihrem Rücktritt führte. Die Mystiker aber sind schon dort, in Gottes Hand, sie brauchen keine Angst mehr zu haben vor dem Fallen. Tiefer fallen als in die unverzerrte Wahrnehmung, ins Nichts, in die Leere, das kann man nicht. So wie im Tao Te King dem Wasser gehuldigt wird, weil es sich immer die tiefsten Stellen aussucht: Erst fällt es vom Himmel, dann fließt es im Tal an die tiefste Stelle und von dort, immer weiter die Tiefe suchend, zum Meer. Der Zyklus des Wassers ist ein Sinnbild für die Heimkehr in das große Ganze und unseren Lebenslauf: Vor der Geburt sind wir noch Wesen, die »daheim« sind, im Wasser und im Körper der Mutter, da sind wir nicht abgetrennt, und auch nach dem Tod sind wir wieder daheim, so wie der Regentropfen im Ozean. Nur dazwischen sind wir Individuen, und als solche manchmal sehr einsam. Die mystische Erfahrung erinnert uns an diesen Zyklus der Wassertropfen und den unseres Erdenlebens. Als Eintauchen in das Unveränderliche, Unzerteilte, ist die mystische Erfahrung ein »Sterben vor dem Sterben«, ein sich Wiederverbinden (religio – to reconnect) mit dem Ganzen.


Angelus Silesius

Als ich vor Jahren meine Zeitschrift in »Das Magazin fürs Wesentliche« umbenannte und darin eine Kolumne »Mensch, werde wesentlich« bildete, schaute ich nach, woher dieses Diktum stammt. Es stammt von Angelus Silesius (1624-1677). Den kannte ich bis dato kaum. Ein Mystiker, schreiben die Lexika. Wie sympathisch, fand ich. Dann las ich, dass er als Protestant aufwuchs, als Erwachsener aber zum Katholizismus konvertierte und dort die Gegenreformation mit Kampfschriften und Kampfliedern (»Mir nach, spricht Christus«) versorgte – wie unsympathisch. Seine Texte aber haben den Geschmack des Meerwassers: »Halt an, wo läufst du hin, der Himmel ist in dir: Suchst du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.« Oder: »Ein Auge, das sich nie der Lust des Sehns entbricht: Wird endlich gar verblendt und sieht sich selbsten nicht.« Das rechtfertigt seine politischen Äußerungen und Taten kein bisschen, aber es zeigte mir, dass ich auch einen hart an der Kitschgrenze dichtenden Kämpfer für eine mir unsympathische politische Richtung (die Gegenreformation) als Verwandten »erkennen« konnte: Der Himmel ist in mir, in dir und mir, in jedem von uns – ja, so ist es. So wie John Lennon sang: »Imagine there’s no heaven … above us only sky«. Über uns ist nur der atmosphärische Himmel, nichts weiter; der Himmel, von dem die Religionen sprechen, das Paradies, das ist nur in uns selbst.


Mutter Teresas Leiden

Worte wie »Der Himmel ist in dir« lösen in Otto Normalverbraucher jedoch keine Erkenntnis aus. Dazu braucht es schon einen Schock, der einen aus der Routine des konventionellen Denkens hinaus katapultiert. Für einige mögen das die Tagebücher von Mutter Teresa gewesen sein, dieser in aller Welt so überaus geschätzten Heiligen von Kalkutta. 2007, zehn Jahre nach ihrem Tod, wurden sie veröffentlicht. Dort bekannte sie, dass sie sich fast ihr ganzes tätiges Leben lang von Gott verlassen fühlte. Religiös gesehen, ist sie eine Gescheiterte. Trotz ihrer großen und beharrlichen Hingabe als Engel der Armen in Kalkutta, fand sie Gott nicht und in ihrem Lebenswerk keine Erfüllung (Tagebucheintrag: »In meinem Innern ist es eiskalt«). Ihr fehlte die mystische Erfahrung. Ihr Berufungserlebnis bestand darin, dass Jesus ihr erschien und sie aufforderte, alles aufzugeben und ihm in den Ärmsten der Armen zu dienen. Danach war der Kontakt zum Göttlichen abgebrochen. Tot. Keine Verbindung mehr. Sie betete, aber sie meditierte nicht und hatte über die fünfzig Jahre ihres tätigen, religiösen Lebens (von ihrer Berufung durch die Vision im Jahr 1946 bis zu ihrem Tod 1997) das Gefühl, von Gott verlassen zu sein. Was für ein Leiden!
»Der Himmel bedeutet mir nichts mehr – für mich sieht er wie ein leerer Platz aus« – »Tief in meinem Innern ist nur Leere und Dunkelheit. Ich habe keinen Glauben – ich wage es nicht, die Worte und Gedanken auszusprechen, die mich so unbeschreiblich leiden lassen«. Diese dunkle Nacht der Seele erfährt sie in Indien, in dem Kulturraum, der über die Jahrtausende wie kein anderer die Leere, Stille, Transzendenz gefeiert hat als Tor zum Himmel mystischer Verzückung. Aber diesen Aspekt der Leere kann sie nicht erkennen – Leere als Abwesenheit bestimmender, eben auch einengender Formen – denn sie ist von religiösen Bildern und Autoritäten geprägt, die ihr einst, in der Zeit ihrer entscheidenden Sozialisierung, eine personenfixierte Treue im Glauben abverlangten – eine Treue mit nur wenig Liebe und Weisheit – und so blieb für sie das Tor zum Himmel versperrt. Dass sie dennoch den Dienst an den Armen durchhielt bis an ihr Lebensende finde ich bewundernswert, auch wenn einige Kritiker meinen, sie habe mit der Art ihrer Hilfe mehr Schaden angerichtet als genützt.
Dass selbst ein Papst Johannes Paul II, der doch an Güte und Einsicht unserem jetzigen Benedikt einiges voraus hatte, solch eine Frau seligspricht (so geschehen 2003), und das mit einer für die katholische Kirche ungewöhnlichen Geschwindigkeit – es war die schnellste Seligsprechung der Neuzeit – spricht wieder mal Bände darüber, welche Art von Vorbild hier gefeiert wird. Ihr seelisches Unglück und ihre Zweifel an der Existenz Gottes waren damals schon bekannt, und es gab damals und gibt heute auch in der katholischen Kirche durchaus würdevollere Gestalten, die eine Ehrung verdient hätten.


Papst ohne Bezug zu Gott

Viele Menschen haben den direkten Bezug zum Ganzen, aus dem sie entstanden sind, nie wirklich gesucht. Man könnte sie »areligiös« oder »religiös unmusikalisch« nennen. Ich glaube jedoch, dass sie das nur an der Oberfläche sind, denn in der Tiefe sucht jeder Mensch nach sich selbst (Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich?), und diese Suche würde ich eine religiöse nennen.
Deutlicher als bei diesen vermeintlich Areligiösen wird das Fehlen der Erfüllung bei unseren religiösen Autoritäten. Nicht nur Mutter Teresa, auch unser Papst Josef Ratzinger gehört zu den Unerfüllten, in ihrer Suche Gescheiterten, auch ihm fehlt der direkte Bezug zu Gott. Ausgerechnet ihm! Bei Normalbürgern fällt das »Unmystische« ihres Weltbezugs nicht so auf, aber bei der dem Papst zugewiesenen sozialen Rolle als Jesu Vertreter auf Erden ist das ein schmerzhafter, trostloser Anblick. Die verhärmten, geradezu verbitterten Gesichter von Bischof Mixa, Josef Ratzinger, Mutter Teresa zeigen dieses Fehlen der »göttlichen Gnade«, die ja die Vorstellung eines personalen Gottes gar nicht braucht.
In der naiven Phase unserer Entwicklung, speziell als Kinder und oft noch viele Jahre danach, haben wir dieses Gefühl einer Beheimatung im Leben, einer Geborgenheit im Universum. Solch ein Vertrauen ins Leben und in die Richtigkeit von allem haben wir Menschen typischerweise dann erst wieder nach der großen inneren Krise der Verlassenheit, in der direkten Erfahrung mit Gott, dem Göttlichen, dem Universum, der Existenz, dem Tao, dem Unnennbaren, nenne es wie du willst. Dietrich Bonhoeffer hatte es als todgeweihter Gefangener der Gestapo (nicht erst dann, aber dann am eindringlichsten): »Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag«. Kein Priester und kein Papst kann uns dieses Gefühl geben und auch kein noch so moralisch tadelloses Leben. Nur die mystische Erfahrung schenkt uns solche Erfüllung. Hierin liegt das ganze Drama der religiösen Autoritäten, in denen eine hohe soziale Stellung – nicht immer, aber meistens – einer tiefen inneren Verzweiflung gegenübersteht, wie Mutter Teresa das in ihren Tagebüchern so bewegend dargestellt hat.


Die Gottesfrage

Eugen Drewermann, selbst ein Kleriker (und ein grandioser Redner! Aber auch er sieht manchmal aus wie das Leiden Christi), hat die Psyche der Kleriker in seinem Standardwerk von 1988 (»Kleriker – Psychogramm eines Ideals«) als die von zutiefst Zerrissenen beschrieben. Er ist nicht der einzige, der das sieht und bedauert, von der »Abstimmung mit den Füßen« bei den Neuzugängen zur Priesterausbildung mal abgesehen. »Die Gottesfrage ist in den Kirchen, nicht nur den evangelischen, unterschwellig schon länger am Gären«, schreibt Hartmut Meesmann im Publik-Forum (dieser sehr lesenswerten, kritischen christlichen Zeitschrift) vom 11. Juni 2010. »Der evangelische Theologe Klaus-Peter Jörns hat mit seinen umfangreichen Studien … offengelegt, wie vielschichtig und vielfältig die Gottesvorstellungen der Christen sind und wie sehr sie den offiziellen Lehren widersprechen; und dass Kirchenmitglieder, ja, selbst Pfarrer, oft gar nicht an Gott glauben, zumindest nicht an einen personalen Gott.« Dann zitiert Meesmann (Redakteur von Publik-Forum) eine Erhebung des Soziologen und Theologen Hijme Stoffels von der Freien Universität Amsterdam aus dem Jahr 2006, mit dem Ergebnis: »Von den Pfarrern der kleinen Remonstrantengemeinschaft gaben 41 Prozent an, dass sie nicht an Gott glaubten. Bei den lutherischen Pastoren sind dies 24 Prozent und bei den Reformierten 19 Prozent.«


Kindliche Mystik

Kommen Kinder als Mystiker auf die Welt? Nein, nicht ganz. So berauschend frei und unverstellt der unschuldige Blick eines gerade geborenen Kindes auf uns Erwachsene auch ist, spätestens mit dem Schrei vor Schmerz, Hunger oder Verlassenheit ist diese Idylle wieder dahin. Auch Mystiker empfinden Schmerzen, aber das Gefühl der Verbindung mit dem Urgrund verlässt sie nicht, so groß der aktuelle Schmerz oder das aktuelle Scheitern im Weltlichen auch sein mögen. Sie fühlen sich geborgen.
Ein starkes Erlebnis in meiner Kindheit war die Feststellung, dass meine visuelle Wahrnehmung aus Punkten besteht, so ähnlich wie die Rasterpunkte eines Zeitungsfotos. War ich sechs Jahre alt, oder zehn? Ich weiß es nicht mehr, aber ich weiß noch, wie mein Vater reagierte, als ich ihn fragte, was das sei und warum. Er schaute mich dabei so merkwürdig an, dass ich das Gefühl bekam, irgendwas stimmte mit mir nicht. Später erklärte er mir die Bedeutung des optischen und akustischen Rauschens. Er war Wissenschaftler, Sinnesphysiologe, er kannte sich da aus. Aber die Erfahrung selbst hatte er nicht, allenfalls im Akustischen (da höre man das Strömen des Blutes im inneren Ohr, sagte er). Ich aber hatte diese Erfahrung auch im Visuellen: Jeder Blick zeigt mir ein Meer aus winzig kleinen Punkten. Auch heute noch sehe ich alles wie gerastert – wenn ich meine Aufmerksamkeit darauf lenke, was ich klugerweise normalerweise nicht tue. Dabei ist meine Sicht (als Bebrillter, Kurzsichtiger) so scharf, wie sie nur sein kann. Das Bewusstsein, dass alles, was ich sehe, ein Bild ist, das aus Punkten zusammengesetzt ist – dass ich, genau genommen, nicht »den Baum« vor mir sehe, sondern ein Meer von Punkten – dieses Bewusstsein verlässt mich nie völlig.
Ich meine, dass diese Wahrnehmung ein Überbleibsel ist aus der Zeit, in der ich noch keine Begriffe hatte, mit denen ich beschreiben konnte, was ich sah und erlebte. Aus der Zeit, als meine Wahrnehmung noch ein Ganzes war und nicht nur, oder vor allem das sah, was ich zu sehen gelernt hatte oder sehen wollte oder wofür ich »Begriffe« hatte.
Wie sollen Eltern mit sowas umgehen? Zunächst mal sollten sie wissen, dass alle Kinder mystische Erfahrungen haben, einige mehr, andere weniger, und dass man gut daran tut, diese nicht zu pathologisieren. Sie fördern kann man wohl auch kaum, damit liefe man Gefahr, diese Erfahrungen in eine bestimmte kulturelle Richtung zu ziehen. Aber man kann neugierig nachfragen, wenn ein Kind sowas berichtet und sollte ihm wohlwollende, elterliche Aufmerksamkeit geben.


Ist Mystik »zu« einfach?

Das Schwierige an der Vermittlung mystischer Erkenntnis ist, das sie so einfach ist. So etwas Einfaches können sich die meisten Menschen nicht vorstellen – und sie sollen es sich ja auch nicht vorstellen, sie sollen es erfahren. Kann man etwas erfahren, was man sich »nicht vorstellen« kann? »Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können«, das wusste schon Einstein. Jedes Weltbild, jede Erwartung und Überzeugung ist Theorie, und die bestimmt in starkem Maße, was wir beobachten, schon allein deshalb, weil wir dorthin unsere Aufmerksamkeit lenken. Legendär ist die Geschichte von den Indianern, die das Schiff ihrer spanischen »Entdecker« nicht ankommen sahen, weil sie nicht erwarteten, dass ein Schiff übers Meer kommen würde, ja überhaupt kommen könne. Oder von dem Mann, der in einem Kühlraum erfror, weil er nicht wusste, dass die Kühlung defekt war.
Stelle dir nun einmal vor, was du sehen würdest, wenn du keine Vorstellung davon hättest, was du sehen würdest, wenn du dir nichts vorstellst. Eben das ist das Koan. »Gesegnet sind die, die keine Vorstellungen haben«, nicht einmal von Mystik und von Koans, müsste unser heutiges Update von Jesus sagen (die aktualisierte Bergpredigt 2.0). Jedenfalls ist Mystik eine Erfahrung vor jeglicher Vorstellung und jenseits davon – etwas sehr Uriges, Archaisches und gar nicht Kompliziertes. Sie erfordert kein Philosophie- oder Theologiestudium, im Gegenteil, beides kann dabei sehr hinderlich sein. Es ist jedoch eine gute Voraussetzung, mit Philosophie oder Theologie »fertig« zu sein, wirklich fertig, denn dann kann man zurückkehren zu etwas so Einfachem wie der Mystik.


Eintauchen

Ich mag den Begriff des Eintauchens sehr. So wie man in körperwarmes Wasser eintaucht, das den Unterschied zwischen innen und außen vermindert (wir bestehen ja zu 70 Prozent aus Wasser), taucht man in der mystischen Erfahrung in die gegenwärtige Wahrnehmung ein und wird zu dem, was man sieht, hört, fühlt oder sonstwie empfindet oder erfährt. Die Trennung zwischen mir und dem, was ich erfahre, ist in der mystischen Erfahrung aufgehoben. Innen- und Außenwelt sind eins. Alles, was ich erlebe, die ganze vermeintliche Außenwelt, von der ich zu wissen glaube, ist zur Innenwelt geworden – zu meiner Innenwelt, aber auch der von allen anderen, denn die anderen, ihre Ideen, Empfindungen und Erfahrungen sind da auch mit drin.
Meditation führt zu solchen Erfahrungen, das ist ihr Sinn und Zweck, aber sie kann diese nicht erzeugen. Nichts kann solche Erfahrungen erzeugen, sie entziehen sich dem Einsatz von Methoden. Meditation ist jedoch eine gute Vorbereitung dafür, und auch, wenn im stundenlangen stillen Sitzen die Gnade der mystischen Verzückung einen nicht überfällt (sie ist sehr launisch), bereitet Meditation einen auf die Akzeptanz dieser Verzückung vor und auf deren Integration, wenn sie dann endlich eintritt. Es hat ja schon Menschen gegeben, die wurden von dieser Verzückung so überrumpelt, dass sie durchdrehten und danach das, was diese Verzückung auslöste oder begleitete entweder panisch mieden oder gierig suchten (beides ist ähnlich stark störend und hinderlich).


Liebe

Auch Liebe bereitet einen auf die mystische Erfahrung vor. Ein liebevoll gelebtes Leben ist dem mystischen Leben sehr nahe, je grenzenloser die Liebe, umso mehr. Man kann die mystische Erfahrung geradezu in Begriffen der Liebe beschreiben. Rumi etwa tut das in so hemmungsloser und genialer Weise, dass seine Lyrik unser Herz sogar mehr als 700 Jahre nach seinem Tod noch erreicht, trotz Übersetzung aus dem Altpersischen und über die kulturelle Kluft zwischen dem islamischen Mittelalter und unserer postindustriellen Moderne hinweg. Liebe als Hinwendung ohne Zweck und Absicht des Benutzens ist mystisch – das liebende Subjekt verschmilzt mit seinem Objekt und ist dann nicht mehr getrennt, so dass auch das Begehren in diesem Ganzen verschwunden ist – wer sollte da noch begehren, wenn du geworden bist, was du gesucht hast?
Eine Liebespraxis, die das Transpersonale nicht fürchtet, obwohl es doch alle Grenzen aufhebt, ist mystische Praxis. Liebe und Meditation sind die beiden Flügel, auf denen wir abheben und die Essenz aller Religiosität erreichen können, mitten ins Herz hinein, ins Innerste. Für manche Menschen ist es die Kunst, für viele die Natur. Ohne Katechismen, ohne Heilige Schriften, ohne Kleriker als Vermittler. Mystiker brauchen keine Religion, sie sind Religiosität pur. Die bestehenden Religionen sind nur die Gerippe einstiger mystischer Erfahrungen, die erstarrten Fassaden einst beseelter Räume; sie stören eher, als dass sie den Lebenden helfen, zu sich zu kommen, zu Gott, zum Glück, zur Erfüllung.


Mystik im Alltag

Mein spiritueller Lehrer Osho (damals Bhagwan genannt, »der Gesegnete«) gab mir 1977 den Namen »Sugata«. War er ein Guru? Eher ein Mystiker, der andere zu infizieren suchte mit seiner Botschaft, denn eine »Lehre« habe er nicht, sagte er. Meinen Namen übersetzte er mir als »wohlgegangen«, über das Rad der Wiederkehr (des Leidens, der Routinen und Teufelskreise) hinaus gegangen. Mir religiösem Revoluzzer klang das meist zu gestelzt, deshalb übersetzte ich meinen Namen lieber als »abgefahren« oder »verduftet«. Bevor ich zu ihm kam, war ich wie ein wandernder Sadhu durch Indien getorkelt, von Ekstase zu Ekstase mich hangelnd, ein Fan mystischer Schriften aller Couleur. Sein Ashram erschien mir demgegenüber als geradezu weltlich, und so erhielt ich dort bald den Spitznamen »der Mönch« (im Jahr davor war ich buddhistischer Mönch gewesen). Was ich bei Osho lernte, war vor allem die Ausweitung der mystischen Erfahrung: Nicht nur das Lesen heiliger Schriften, Meditation, Yoga und Tanz können einen in Ekstase versetzen, sondern auch kontinuierliche Arbeit, eine stabile Beziehung und sogar die Buchhaltung in einer Bank (1981 arbeitete ich im Foreign Exchange des Ashrams in Poona mit) – jedenfalls dann, wenn man dabei das Atmen nicht vergisst.


Humor und Mystik

Heute erscheint mir Humor als das wichtigste Ingrediens einer intelligenten mystischen Lebenspraxis. Humor als das Lachen über sich selbst, im Gegensatz zum Spott, dem Lachen über andere. Über andere zu spotten erlaube ich mir nur in dem Bewusstsein, dass ich auch das bin, worüber ich da spotte; dann ist es Humor, denn dann belustige ich mich damit ja über mich selbst (hoffentlich ist das für den so Verspotteten auch spürbar). Humor lehrt einen leichtherzigen Umgang mit der Identität. Wer bist du? Ich bin dies, aber auch jenes. Eine flatterhafte Gestalt? Ja, aber eine, die wo nötig standfest ist und unbeirrbar; ein Mensch mit Mut, Zivilcourage und Rückgrat, nur eben einer, der sich sogar in seiner favorisierten Rolle selbst nicht völlig ernst nimmt und sich gerade dadurch selbst völlig ernst nimmt, denn: Ich bin nicht meine Rolle!
Seit zwei, drei Jahren ist dieses Spielen in meinem Leben sehr viel deutlicher und sichtbarer geworden. Anknüpfend an Buddhas letzte Worte »Sei dir selbst ein Licht« sagte mein einstiger spiritueller Meister Osho: »Sei dir selbst ein Witz.« Nimm die aktuelle Identität, die du dir gerade zugelegt oder die man dir verpasst hat, nicht allzu ernst. Bleib wandelbar, standfest und ohne Vorwurf an andere, dass sie so sind, wie sie sind. Gehe stattdessen lieber spielend weiter, immer weiter, darüber hinaus (gate, gate, paragate) und auch dann noch heiter weiter, bis du ganz verduftet bist.


Naturwissenschaft und Mystik

»Der Naturwissenschaftler kennt die Zweige des Baumes des Wissens, aber nicht seine Wurzeln. Der Mystiker kennt die Wurzeln des Baumes des Wissens, aber nicht seine Zweige. Die Naturwissenschaft ist nicht auf die Mystik angewiesen und die Mystik nicht auf die Naturwissenschaft – doch die Menschheit kann auf keine der beiden verzichten«, schrieb der Physiker und Systemtheoretiker Fritjof Capra 1983 in »Der kosmische Reigen«. Auch ich meine, dass es keine besseren, sich ergänzenden Partner gibt, was unsere Weltanschauung anbelangt, als die Naturwissenschaft und die Mystik, und dass wir auf keine der beiden verzichten können.
Und auch das, was so viele Esoteriker fürchten und so viele Wissenschaftler schätzen – die randomisierten Blindstudien, die ein Mittel oder eine Methode dem Vergleich mit einem Placebo aussetzen – sollten wir ernst nehmen als eine geniale Testmethode, um Wahrnehmungstäuschungen als solche zu erkennen. Sie hilft, kollektive Wahnvorstellungen zu erkennen, während die mystische Wahrnehmung alle individuellen Wahnvorstellungen durchdringt, insbesondere und schlussendlich auch die, dass irgendetwas in der Welt von seiner Umgebung (und damit auch von irgendwas anderem) getrennt sei.


Die Brille auf unserer Nase

Zum Abschluss noch ein paar Zitate von einem Wissenschaftstheoretiker, der mich schon als Student stark beeindruckte und beeinflusste, manche halten ihn für den größten Philosophen des 20. Jahrhunderts – Ludwig Wittgenstein (1889-1951):
»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«
»Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.«
»Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unserer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.«
»Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.«


Der Artikel erschien erstmals in CONNECTION spirit, 7-8/2010, www.connection.de

Wolf Schneider, Jg. 1952, Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie (1971-75). Hrsg. der Zeitschrift connection seit 1985. 2005 Gründung der »Schule der Kommunikation«. Kontakt: schneider@connection.de, Blog: www.schreibkunst.com

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1 Kommentar

Ruscha Fiedler 17. Juli 2014 - 16:54

Ich bin selbst Mystikerin. Keiner will es aber hören. Ich lebe aber, meinen Rosenkranz: aus der Kommunikation, durch die Sammlung, Meditation, Kontemplation, wieder weiter, durch assoziatieve Meditation über den Sinn der empfangenen Bilder und der inneren Stimme, weiter in Richtung Kommunikation.Ich schaue sozusagen wie durch den Spiegel, empfange manchmal, wenn es will, (ich nenne es) “Erahnungen jenseits vom Spiegel”. Alein, aber nicht einsam.

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