Ein Beispiel, das stellvertretend für viele indigene Kunstformen näher betrachtet werden soll, ist die Kunst der Shipibo, eines Volks, das im Amazonasbecken Perus, am Oberlauf des Rio Ucayali, im tropisch-feuchtheißen Dschungel lebt. Was die Shipibo vor allen anderen Völkern dieses Gebietes auszeichnet und schon in ihrer äußeren Erscheinung unverwechselbar macht, sind die feinlinigen, netzartigen geometrischen Ornamente, mit denen sie Keramikgefäße, Textilien und eben auch den eigenen Körper versehen.
Diese Muster sind sowohl Ausdruck ihrer ethnischen Identität als auch ihr persönliches „Menschenmuster“ und bilden einen energetischen Schutz. In den Dörfern malen und sticken Frauen Muster auf Stoffe, bemalen Keramikgefäße mit feinen Ornamenten und brennen diese in Erdgruben. Alle Arbeiten, die mit der Wiedergabe dieser Muster zu tun haben, sind den Frauen vorbehalten. Diese fungieren so als Hüterinnen und Erneuerinnen des Wissens ihrer Ahninnen, der Geschichte ihres Volkes.
Schon früh lernen die Mädchen durch die Arbeit ihrer Mütter und durch deren Erzählungen die Bedeutungen der verschiedenen Ornamente und den Umgang mit den Materialien. Die Shipibo-Frauen sind in der Lage, die bestickten Tücher, die sie als kurze Wickelröcke tragen, wie Geschichtsbücher zu lesen. Einige der alten Frauen können die feinen Ornamentlinien auch singen – ein Wissen, das indes mehr und mehr verloren geht.
Den geistigen und medizinischen Stützpfeiler dieser Gemeinschaft bilden Schamanin und Schamane (→ Schamanismus). Sie als Wissende besitzen die Fähigkeit, zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Geistwesen zu vermitteln. Sein Wissen setzt der Schamane in nächtlichen Ritualen mit dem → Visionen erzeugenden Trank → Ayahuasca zum Wohle des Einzelnen und somit der Gemeinschaft ein. Schamane und Schamanin vermögen das unsichtbare Muster des Einzelnen zu sehen und es sichtbar zu machen. Ist jemand krank, so ist sein individuelles Körpermuster verwischt oder beschädigt. Der Schamane webt sich mit seinen Gesängen (→ Icaros) in das Muster des Kranken ein und „korrigiert“, „berichtigt“ es in einem bestimmten rituellen Kontext durch Gesang wieder. Manchmal ist es für den Heilungsprozess auch notwendig, das individuelle Muster dem Patienten auf die Haut zu malen.
Alle Heilungsrituale beziehen die soziale Gemeinschaft mit ein. Die Shipibo sagen: „Gesundsein heißt, schöne Muster zu haben.“ Die Shipibos wissen, dass ihr individuelles Muster ein Bestandteil des Musters ist, aus dem der Kosmos besteht. So ist jedes Tuch, jede Keramik eine Erinnerung daran, dass wir in das große kosmische Gewebe – individuell und zugleich als Teil der Gemeinschaft – eingewoben sind.
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