Göttin, weibliche Spiritualität

von Lexikon

Die Leben schenkende Urmutter ist das Urbild der Schöpferkraft. Die Muttergöttin Eva (Chawwa bzw. Heva, Zahlwert 19) wird in der Bibel im Zusammenhang mit der Herrschaftsnahme einer männlichen Gottheit (Jahwe) durch eine Umdeutung im Zusammenhang mit der „verführerischen“ Schlange am Baum des Lebens entmachtet. Dabei war die Schlange auf der ganzen Welt der Inbegriff des Mysteriums der Wiedergeburt, weil sie die wunderbare Fähigkeit besaß, ihre Haut abzustreifen und so wieder jung zu werden (→ Ouroboros). Der Baum in der Mitte des Paradieses ist natürlich der schamanische Weltenbaum (→ Schamanismus, → Lebensbaum). Das männliche Wesen Adam hat den kabbalistischen Zahlwert 45 (1-4-40). So ergibt die Verbindung von Eva (19) und Adam (45) die Zahl 64, die Zahl des genetischen Codes, bei dem vier verschieden Basen in linearer Folge zu genau 64 Tripletts (Dreierkombinationen, → Trinität, → Zahlen) zusammentreten. Kabbalistisch (→ Kabbala) gelesen ist die bibl. Genesis also eher eine ursprüngliche Vision der Schöpfung der Dreiheit aus der Einheit.
In vielen Traditionen, insbesondere der hinduist. (→ Bhakti-Yoga, → Kali), werden immer noch weibliche Gottheiten verehrt. Die Verehrung der weiblichen Kraft, auch weiblicher → Avatare, meistens „Mutter“ genannt, und weiblicher → Heiliger eröffnet immerhin die Möglichkeit, neben der traditionellen weiblichen Rolle auch unabhängig von Männern einen eigenen Weg zu gehen.
Ein Aspekt der Wiederentdeckung weiblicher Spiritualität ist die neuerliche Hinwendung zur jahrhundertelang verdrängten Großen Göttin, die je nach Glaubensrichtung entweder als vorchristl. Göttin Eva, Inanna, Isis oder Mara wiederbelebt wurde oder im christl. Kontext als Hinwendung zu → Maria, der „Mutter Gottes“, erfolgte. Denn in den patriarchalisch beherrschten und definierten Gottesvorstellungen hatte das Weibliche nur eine untergeordnete Stellung. Tatsächlich ist die Vorstellung von einer schöpferischen Göttin eines der ältesten religiösen Bilder überhaupt. In allen Schöpfungsmythen (die nicht von einer patriarchalischen Religion verstümmelt wurden) wurde die Welt von einer weiblichen Gottheit erschaffen, und die „Mütter“ waren die Schöpferinnen aus dem Kessel der Erneuerung, so etwa die schamanische Urmutter Hel oder → Holle.
Tatsächlich ist der „Gott“ der ersten Genesis der Bibel weder männlich noch weiblich, sondern es sind die Elohim, androgyne Kräfte (→ Gott), die z.B. Martin Luther mit „Geist Gottes“ übersetzte. Doch die Reinterpretation (und falsche Übersetzung, weil man die Codes nicht kannte) der religiösen Schriften ließ keinen Platz mehr für die Göttin, noch nicht einmal für ein androgynes Gottesbild. „Da Frauen an diesem Weltentwurf keinen aktiven Anteil haben sollen und dürfen, ist nur ihre Anpassung gefragt, die zur sichersten Stütze des Systems wird. Diese patriarchale Fixiertheit wird von der Mehrheit der Frauen bis heute noch nicht durchschaut“ (Christa Mulack 1983).

„Die Symbolik der Göttin hat vor allem das Mysterium von Geburt, Tod und Erneuerung des Lebens zum Thema, nicht nur des menschlichen, sondern allen Lebens auf der Erde und im gesamten Kosmos. Symbole und Bilder kreisen um die sich selbst befruchtende Göttin und ihre Grundfunktion als Lebensspenderin, Beherrscherin des Todes und Regeneratrix und um die Mutter Erde, die Fruchtbarkeitsgöttin in Jugend und Alter, die sich mit dem pflanzlichen Leben entfaltet und wieder vergeht. Sie war der Ursprung allen Lebens und bezog ihre Kraft aus den Quellen und Brunnen, aus der Sonne, dem Mond und der feuchten Erde. Die → Zeit in diesem mythischen Symbolsystem ist nicht linear, sondern zyklisch. In der Kunst drückt sich das in den Zeichen dynamischer Bewegung aus: in den Windungen und Krümmungen von Spiralen und Schlangen, in Kreisen, Mondsicheln, Widderhörnern (→ Hörner), keimenden Saaten und Schößlingen. Die Schlange war ein Symbol der Lebenskraft und –erneuerung, kein böses, sondern ein höchst wohltätiges Wesen. … Die um die Göttin kreisende Kunst, in der kriegerische Bilder und Symbole männlicher Dominanz völlig fehlen, bringt eine Gesellschaftsordnung zum Ausdruck, in deren Mittelpunkt Frauen als Clan-Oberhäupter oder Königin-Priesterinnen standen.“ (Marija Gimbutas 1996)

Die Frauen im Westen erschaffen sich ihre Vorbilder anhand der Forschungen über die Göttinnen neu. Barbara Walker arbeitet in ihrem Buch „Die Geheimnisse des Tarot“ die Kraft der weiblichen Bilder heraus und interpretiert die besonders von Frauen sehr geliebten und häufig benutzten Karten des → Tarot als eine Art „Untergrundbibel“ der Göttin. In einem historischen und mythologischen Überblick arbeitet sie die ursprünglichen Formen weiblicher Spiritualität heraus.

„Besonders Frauen hingen an der alten Religion, denn diese gab ihnen den spirituellen Status als Priesterinnen der Göttin. Das nur männlich orientierte Christentum verweigerte ihnen einen solchen Status. Im Gegensatz zu den alten Gesetzen des Mutterrechts machten die mittelalterlichen Kleriker Frauen für das Vorhandensein der Sünden verantwortlich, und sie sprachen Frauen sogar eine Seele ab. Die Frauen hielten an den Riten der Göttin fest, der Mutter Natur, des Mondes, der Erde und der Wasser. Sie behielten sie sogar noch bei, nachdem der theologische Gehalt der Riten verstümmelt oder vergessen war.“ (Barbara Walker 1994, 18)

Viele der heidnischen Riten (→ Hexen) wurden für das Allgemeinwesen als so wichtig betrachtet, dass sie trotz jeden Versuchs der Unterdrückung fortbestanden; sie mussten sogar später von den Kirchen übernommen oder zumindest teilweise toleriert werden. Dazu gehören nach Barbara Walker nicht nur das Frühlingsfest der Göttin Ostara (Eostre oder Astarte im Osten), das im alten Mondkalender ein festes Datum hatte und im später eingeführten Sonnenkalender jedes Jahr das Datum wechselt, sondern auch andere Feste wie der Karneval zu Ehren der Göttin Carna, der Göttin alles Fleisches, das Mittsommerfest, das Erntedankfest und viele andere (→ Hexen). Nach Elisabeth Hämmerling erfüllt die sumerische Mondgöttin Inanna „jede Phase des, den ganzen Zyklus des mondhaft Weiblichen, und schöpft darin alle ihre Möglichkeiten aus, selbstständig und unerschrocken. Damit offenbart sie viele Ausdrucksformen des Weiblichen und heiligt sie“ (Elisabeth Hämmerling 1990)
Vor den monotheistischen Religionen gab es eine Vielfalt von Göttinnen. In Indien werden unzählige weibliche Gottheiten verehrt: kriegerische, kämpferische, schöpferische usw. Auch die alten → Griechen kannten ähnliche Göttinnen – so wurde etwa der Mysterienkult von → Eleusis zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter veranstaltet. Aphrodite und Artemis, Athene und Persephone stellen unterschiedliche Qualitäten dar, die von der Göttin der Liebe bis zur Göttin des Krieges reichen. Diese Vielfältigkeit der Göttinnen ist deshalb von Bedeutung, weil sie eben nicht nur eine männlich omnipotente Eigenschaft zeigt oder nur die häusliche Gattin eines mächtigen Gottes – also fruchtbar, bewahrend und liebevoll – ist, sondern solche Göttinnen sind auch kämpferisch, zerstörend, dunkel und eigenwillig.
Im Grunde geben solche Bilder natürlich gewissermaßen Archetypen, Urbilder wieder, die jede Frau in sich trägt und ausleben bzw. verkörpern kann. Es sind sicherlich weibliche Fähigkeiten, einen leichteren Zugang zum Unterbewusstsein zu haben, das Dunkle zu spüren, die Mondenergie anzuzapfen, die Empfänglichkeit für Traum und Vision zu wecken und die heilenden Kräfte zu entfalten. Doch das ist nur die eine Seite der Geschichte – und eigentlich ganz auf der Linie, in die man(n) die Frau bisher eingeordnet hat. Diese Linie ist für die Männer nicht gefährlich, sie wird stillschweigend oder offen geduldet.
Die wilde Seite der Frau dagegen, die mächtige, magische → Hexe, die Domina, die Anarchistin, die Hure, die unangepasste und selbstständige Frau, die erfolgreiche Karrierefrau: All diese Seiten werden vom Großteil der Männer gefürchtet. Im Mythos reitet Frau → Holle durch die Raunächte, manchmal fliegt sie auf Gänsen durch die Nacht. Ruth Hoebel schrieb dazu:

„Mit weiblichem Genius meine ich, dass sie nicht so handelt, obwohl sie eine Frau ist, sondern ich sehe mehr das Aufblühen von Erfahrungen von einem besonderen, eigenen Gesichtswinkel eines Individuums, das mutig genug ist, all die schlimmen und freudigen Seiten der ehrfürchtigen Vision des Todes und der Unendlichkeit zu erfahren. Genius und Verrücktheit und Heiligkeit sind alle eng mit der Vision eines Lebens verwoben, das größer als man/frau selbst ist, und wenn wir dieser Vision standhalten und darüber sprechen können, dann ist dies ein geniales Werk.“ (Ruth Hoebel)

Den meisten Frauen geht es um ein notwendiges neues Selbstverständnis der Weiblichkeit und der weiblichen Spiritualität, das keine theologischen Verrenkungen benötigt, um von einer toten Kirche etwas zu retten, das seit der Inquisition, der Hexenverfolgung und dem Genozid an mindestens 100 000 Frauen (und Männern) in Europa längst verloren ist. Barbara Walker geht deshalb mit dem männlichen Gottesbild nicht gerade sanft um:

„Die Männer fürchteten das urteilende Auge der weisen Frau, sogar wenn diese gesellschaftlich machtlos war. Diese Tatsache ist deshalb die verwundbare Stelle in der Rüstung des patriarchalen Establishments. Wenn viele Frauen gemeinsam Nein sagen und es auch meinen, kann die ganze Struktur zusammenbrechen. Die Frauen, die sich zusammentun, um den männlichen Gott zu verneinen, der ihr Geschlecht heimsuchte, und seine Forderung nach Gehorsam, Verehrung, Dienst und Geld zurückweisen, befreien sich automatisch von einer der stärksten psychologischen Fallen, die ihnen die Männer aufgestellt haben. Ohne einen Gott, der ihnen befehlen kann, misshandelnden Ehemännern zu gehorchen und zu dienen, lösen sich ihre Fesseln auf, und sie können aus dem vermeintlichen Gefängnis heraustreten. Ohne einen Gott, der ihnen befiehlt, Kinder auszutragen, die sie nicht wollen, können sie persönliche Kontrolle über ihre Körper übernehmen. Ohne einen Gott, der sie schuldig spricht, weil sie sexuelles Vergnügen erleben, können sie eine neue Sicherheit und neues Vertrauen in ihre eigene Körperlichkeit gewinnen.“ (Barbara Walker 1994)

Es kommt nicht von ungefähr, dass in der islamischen Welt (immerhin über 1,3 Mrd. Menschen) islamische Theologen gerade mit der Macht ihres männlichen Gottesbildes (allah, „Lebenslicht“, leitet sich übrigens ursprünglich von Al-Lat, einer Göttin, ab) die Frauen wieder in die minderwertige Rolle drängen möchten: So erzwingen manche dieser Männer nicht nur die Wiedereinführung der Verschleierung, sondern sogar unverblümt wieder die Einführung der Klitorisbeschneidung, die eben damit begründet wird, dass die Frau beim Geschlechtsverkehr keine Lust empfinden darf.
Frauen sind sich natürlich im Klaren darüber, dass ihre Macht vorerst noch begrenzt ist. Aber gerade der Ansatz, die dreifältige Göttin wieder einzusetzen, kann für die Männergesellschaft revolutionierend sein. Denn die dreifältige Göttin versinnbildlicht gerade jene gesellschaftlichen Rollen, die am vitalen Angelpunkt der Gesellschaft stehen: die der jungen Frau, auf der die gesamte kapitalträchtige Schönheitsindustrie mit Milliardenumsätzen aufgebaut ist, die der Mutter oder Lebenskraft, deren Kinder die Grundlage der Gesellschaft bilden, und die der alten Weisen und Ärztin, deren heilkundliche Erfahrungen außer im Hebammentum von der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie verdrängt wurden. Die Dreiheit von Erschafferin, Erhalterin und Zerstörerin (im nord. Weltbild Hel, die Helle, die Göttin der Wiedergeburt, woraus der Begriff → Hölle gemacht wurde) ist die wesentliche Grundlage einer lebendigen und weiblichen Gottesvorstellung, die aber einen unmittelbaren, konkreten Einfluss auf das gesellschaftliche und ökonomische Leben hat, wenn die Frau deren Implikationen versteht.
Spirituell gesehen bringen weibliche Gottesvorstellungen (wenn wir schon nicht in der Lage sind, die schöpferische Intelligenz des Universums unabhängig vom Geschlecht zu sehen) Frauen wie Männer zu einer lebensbejahenden Haltung, die im Sein ruht und nicht faustisch selbstzerstörerisch handelt. Die gesamte Kulturleistung der Frau, die Schöpferin von Medizin, Kunst, Kochen, Töpfern, Kleidung und Religionen war, sind Zeichen für die unverzichtbare Bedeutung weiblicher Weisheit und Intelligenz (die ihr von vielen Männern immer noch abgesprochen und höchstens als ‚Intuition’ anerkannt wird).

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