Bewusstseinsevolution

von Lexikon

Die Geschichte der menschlichen Kultur ist auch eine Geschichte der Evolution des Bewusstseins. Insbesondere der Philosoph Jean Gebser (1905-1973) versuchte in seinem Werk „Ursprung und Gegenwart“ eine Geschichte der Bewusstseinsevolution zu entwerfen.
Eine Stufenfolge birgt natürlich Probleme in sich, weil sie auch bedeutet, dass frühere Stufen als „niedriger“ angesehen werden als spätere. Wenn man die verschiedenen Bewusstseinsformen in diesem Sinne unbewertet betrachtet, kann Gebsers Theorie indes eine interessante Hypothese sein. Daran wird auch deutlich, dass diese Stufenfolge am meisten auf die europäische Bewusstseinsentwicklung zutrifft. Die folgende Auflistung enthält eigene Interpretationsanteile.
Archaische Struktur: Urmenschen (ab ca. 400 000 v.u.Z.). Jagen und Sammeln, Entwicklung handwerklicher und künstlerischer Fähigkeiten, Sprachentwicklung, Zeit der Ganzheitlichkeit, der Identität mit dem Ganzen, Zustand vor der → Zeit. Lebendige Verbindung mit den Ahnen und → Geistern.
Magische Struktur: Frühmensch (ab ca. 100 000 v.u.Z., über Altsteinzeit bis Jungsteinzeit). Naturbezogene Stammeswelt und Stammesgemeinschaften, Zeit der → Magie, des → Schamanismus, Kontakt mit Geistwesen (→ Geisttieren) und Ahnen. Verflochtenheit mit allem Lebendigen, „vorrational“.
Mythische Struktur: Ackerbaugesellschaften (ab ca. 10 000 v.u.Z.). Zeit der Göttinnen und später Götter, vergangenheitsbezogen, Ahnenkulte, Bilderwelten, → Mystik und Mysterien, Prophezeiungen, → Orakel, Hören von Götterstimmen, Besessenheit. Noch Vermischung von Traum und Wirklichkeit. Entwicklung der Rationalität.
Logische Struktur: Mit Beginn der griech. Antike (ca. 1000 v.u.Z.) lösen Sprechen und Schreiben die Mythen ab. Entstehung des individuellen Bewusstseins und der Wertschätzung menschlicher Individualität, Ablösung der matriarchalischen Kultur durch eine patriarchalische, zukunftsgerichtet mit Zweck und Ziel, Monotheismus, kultisch, Dogmen, Formeln, lineare Zeitvorstellung, Ordnungs- und Machtstrukturen, rational und kausal. Beginn des ethischen Verständnisses menschlichen Zusammenlebens.
Integrale Struktur: Neuzeit, Moderne, Postmoderne (ab 1700). Ablösung von dogmatischen Religionsformen, Wissenschaftlichkeit, Evolution von Werten und Freiheitswünschen, Selbstbestimmung, freie Spiritualität, offenes geistiges Weltbild, Demokratie, Entfaltung aller menschlichen Möglichkeiten, bewusster Geist, neue Art der Ganzheitlichkeit, die sich wieder – aber auf „rationale“ Art und Weise – mit der archaischen Struktur verbindet. Überwindung der Linearität, vernetztes Erkennen.

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