Fast alle Glaubenssysteme kennen Zustände der Besessenheit, Zustände also, in denen ein Mensch neben seiner eigenen Seele noch von einem anderen, übernatürlichen Geistwesen besessen sein kann. Kultiviert wird dieser Zustand u.a. von der evangelistischen Pfingstgemeinde (in der Form des Zungensprechens, der Glossolalie), die es nicht nur Amerika, sondern auch in Südafrika gibt, dem haitianischen Vodun und dem westafrikanischen Vodou (→ Voodoo) sowie dem brasilianischen Candomblé. Besessenheit kommt auch im nepalesischen und mongolischen → Schamanismus, dem japan. Shintoismus und in fast allen Stammeskulturen vor. Die katholische Kirche vergibt bis heute das Amt des Exorzisten, da sie Besessenheit nach wie vor als realen Zustand akzeptiert.
Besessenheit ist ein Zustand der → Trance, in dem ein Medium die Energie oder Kraft eines nicht verkörperten Geistes in sich aufnimmt. Bei dem Trancezustand, in dem Besessenheit auftritt, handelt es sich nicht um den Verlust des → Bewusstseins – auch nicht bei anschließender Amnesie –, sondern vielmehr um eine neue, anders geartete Form des Bewusstseins. Man kann es vielleicht so formulieren: Eine veränderte Gehirnkarte taucht auf und verschwindet wieder.
Bei schamanischen Heilritualen in Zentral-Nepal kann während des Heilrituals beim Schamanen sowie beim Patienten Besessenheit auftreten. Durch die Besessenheit kann auf sozial sanktionierte Weise ausgedrückt werden, was nicht in Ordnung ist. Bei dieser gemeinschaftlichen Arbeit von Schamane und Patient wird versucht, das soziale Gleichgewicht und die Harmonie mit der spirituellen Welt wiederherzustellen.
Die Anthropologin Dr. Felicitas Goodman (→ Trance) untersuchte den Vorgang des → Channeling, der spiritistischen Durchsage (→ Spiritismus), die eine Form der Besessenheit ist, 1998 erstmals im Labor. In dieser Untersuchung standen die neurophysiologischen Veränderungen im Mittelpunkt, die während einer Trance-Erfahrung gemessen werden konnten. Die untersuchten Erfahrungen waren „Rituelle Körperhaltungen und ekstatische Trance“ und „Channeling“. Im Gegensatz zu der früher vorherrschenden Meinung, die hauptsächlich auf Beobachtung basiert, zeigen die Labortests bestimmte Unterschiede, die darauf hinweisen, dass wir es mit zwei verschiedenen und dennoch eng verwandten veränderten → Bewusstseinszuständen (VBZ) zu tun haben.
In der rituellen Besessenheitstrance, wie sie z.B. im Candomblé (→ Voodoo) vorkommt, lädt der Gläubige ein „Wesen“ aus einer anderen Realität ein, das selbst keinen Körper besitzt, für die Dauer des Rituals in seinen Körper einzudringen und ihn nach seinem Willen zu benutzen.
Im Allgemeinen läuft die rituelle Besessenheit in folgenden Phasen ab: 1. Vorbereitungsrituale (z.B. Opfergaben, Waschungen, Isolierung, Prozession, Diät); 2. Induktion (z.B. Tanz, Bewegungsmuster, Musik, Einnahme psychoaktiver Substanzen); 3. tiefer Trancezustand (partieller Realitätsverlust, ekstatische Gefühle); 4. Besessenheit durch den Geist, Veränderung des Gesamtverhaltens, der Mimik, Gestik, Stimmlage; 5. Verschwinden des Geistes, Erschöpfung und häufig Amnesie. Welcher Art die Wesen und Geister aus der anderen Wirklichkeit sind, ist abhängig von der geistigen Wirklichkeit der jeweiligen Gesellschaft. Interessant ist, dass daimones, → Dämonen, im Griech. ursprünglich die Bezeichnung für Götter war, später für Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen, die menschliche Schicksale und kosmische Vorgänge beeinflussen konnten. Die Griechen hielten sie für den göttlichen Teil oder die göttliche Stimme im Menschen. Die rituelle Besessenheit im religiösen Kontext stellt ein gelerntes Verhalten dar. Auch die Priesterinnen des → Orakels zu → Delphi wurden in induzierter Besessenheit geschult.
Nur selten kommt es zu einer unvorbereiteten Trance mit Besessenheitsphänomen. Bei solchen Besessenen handelt es sich immer um Personen, die an die Existenz von → Geistern (oder auch „bösen Geistern“ oder → „Teufeln“) glauben und in deren Umfeld dieser Glaube verankert ist.
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