Zwischen dem 7. und 12. Jh. bahnte sich eine neue „Offenbarung“ im Hinduismus ihren Weg, die die zeitlosen Lehren der Hindu-Tradition für die Bedürfnisse ihrer Zeit neu interpretierte. Ein wesentlicher Punkt dieser neuen Offenbarung war laut Mircea Eliade „die Vollendung der Synthese zwischen den Elementen des → Vajrayana- und des shivaitischen (→ Shiva) → Tantra, der → Magie, der → Alchemie und dem → Hatha-Yoga. Sie bildete in gewisser Hinsicht die Fortsetzung der tantrischen Synthese, doch einige von den natha und siddha betonten stärker als ihre Vorgänger den Wert von Magie und Yoga als unschätzbaren Mitteln zur Erlangung der Freiheit und Unsterblichkeit.“ (Mircea Eliade 1977, 312)
Verbunden mit der Nath-Lehre sind hauptsächlich der mythische Guru Matsyendranath, einer der 84 Siddhas des → Vajrayana (→ Tibet-Tantra), der „aus dem Fisch Geborene“, und sein Schüler Goraknath, die beide als Inkarnationen → Shivas gelten. Adi-Natha ist ein mystischer Name Shivas. Das Wort nath bedeutet Meister, weshalb die Nath-Yogis als Nachfolger der Rishis angesehen werden. Das Auftauchen des Hatha-Yoga ist eng an ihren Namen gebunden. Hatha heißt „Gewalt“, Anstrengung und Disziplin.
Aus den alten Abhärtungsmethoden der Kriegerkaste entwickelte sich im Mittelalter der → Hatha-Yoga. Die harte „Gewaltmethode“ wurde zu einer anstrengenden Disziplin im Rahmen des Tantra:
„Die Texte verwenden nun tantrische Begriffe und Gleichnisse und gehen vom tantrischen Weltbild aus, in dem sich die Stoffwelt bipolar darstellt, was fortan auch äußerlich hervorgehoben wird durch die Teilung des Wortes Hatha in zwei Silben: Ha wird zur Chiffre für das ‚Sonnenprinzip’, das als anfeuernd und schöpferisch beschrieben wird – und Tha wird zur Chiffre für das ‚Mondprinzip’, das als dämpfend oder empfänglich einsaugend charakterisiert wird. Nach dem ersten Blick auf diese Symbolik lässt sich kaum vermuten, wie vielschichtig sie ist. Sie kann sich z.B. auf Geist und Stoff beziehen, mit der Vorstellung, dass der Stoff oder der Leib vom Geist durchtränkt werden soll, sie kann einfach auch das Verhältnis von etwas sich Ergänzendem ausdrücken oder den Wechsel von aktiv-passiv, entsprechend Tag und Nacht oder Sonne und Mond.“ (Helmtrud Wieland 1992, 372)
Die Übungen sind ein vollständiger Yoga, der Körper und Geist harmonisch entwickeln wollte und daher Konzentration, → Meditation und → Samadhi einbezieht (→ Raja-Yoga). Es sind ursprünglich keine Gymnastikübungen. Die Übungen wurden vor allem innerhalb tantrischer Praktiken – auch innerhalb des sexuellen Tantra – gebraucht, um den Körper geschmeidig zu halten, um die langwierigen, anstrengenden Techniken durchzuführen. Die vollkommene Beherrschung des Körpers führt zur Entwicklung von → Siddhis oder magischen Kräften.
Die Nath-Sekten, die Kanphata-Yogis (von kan „Ohr“ und phat „Riss“, „Spalt“ = die Ohrringträger, weil sie riesige Ohrringe tragen), sind heute noch in vielen Teilen Indiens populär, besonders in Bengalen und Assam, aber auch in Nepal. Das TM-Siddhi-Programm (→ Meditation, Transzendentale) macht auch Gebrauch von diesen Techniken.
Für den Hatha-Yoga – als Verbindung gegensätzlicher Lebensprinzipien – gelten heute drei Sk.-Werke als maßgebliche Quellentexte. Diese sind zwischen 1100 und 1500 n.u.Z. entstanden: die „Hathoyogapradipika“, die „Gheranda-Samhita“ und die „Siva-Samhita“. Dort sind die Reinigungsübungen, die Haltungen (Asanas), Gesten (→ Mudras), → Atemtechniken (Pranayama oder Kumbhaka), Konzentrationstechniken (Dharana) und Meditationstechniken (Dhyana, → Raja-Yoga) beschrieben.
Für die westlichen Schüler gibt es heute eine Reihe von Hatha-Yoga-Übungsbüchern, die das ganze System vereinfacht als Körperübungen unter dem Namen Yoga oder → Hatha-Yoga lehren.
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