Dieser Begriff entstand im westeurop. Kontext durch die Ausbildung in den → Bauhütten und ist heute noch bei vielen Handwerksberufen gültig, wenn auch in abgeschwächter Form. Der Lehrling oder Auszubildende lernt vom Meister, der dieselbe Ausbildung durchlaufen und seine Fähigkeiten bewiesen hat.
Die zweite Stufe ist der Geselle, der die Lehre beendet hat, aber noch in die Selbstständigkeit und „Meisterschaft“ hineinwachsen muss. In manchen Berufen wie dem des Zimmermanns geht dieser als Handwerksgeselle auf Wanderschaft (die „Walz“) und lernt von vielen verschiedenen Meistern in unterschiedlichen Situationen, bis er seine eigene Meisterschaft erreicht hat. In vielerlei Hinsicht ist dies auch eine → „Schule des Augenblicks“.
Traditionell erstreckten sich beide Stufen über viele Lebensjahre. Wenn in diesem Buch von „spirituellen Meistern“ gesprochen wird, bedeutet das im übertragenen Sinne dasselbe: Ein Mensch durchläuft eine langjährige und im Bereich des Geistigen auch sehr langwierige und wechselhafte Schulung, bis er so weit gereift ist, dass er seine erworbenen Einsichten und Fähigkeiten an andere Suchende weitergeben kann.
Es bedarf großer Lebenserfahrung sowie psychologischer und pädagogischer Fähigkeiten, um „meisterlich“ zu handeln und zu lehren. Deshalb wird in allen spirituellen Traditionen besonderer Wert darauf gelegt, dass ein Suchender langsam und über Jahre durch unterschiedlichen Lernstoff und unterschiedliche Umstände in die Dimensionen des Bewusstseins und Geistes eingeführt wird, bis er selbstständig andere Menschen anleiten kann. Es reicht auch nicht aus, → Erleuchtungen zu haben, egal wie tief eine persönliche Wandlung greifen mag. Wie in allen weltlichen Berufen ist eine grundlegende Ausbildung und Praxis notwendig, eher sogar mehr als für eine weltliche Führungsposition. Meisterschaft hat nichts mit Autorität zu tun und soll auch keine Abhängigkeiten aufbauen – im Gegenteil. Das Vorbild des wandernden Gesellen, der zu verschiedenen Meistern geht, sollte auch für den spirituellen Weg Geltung haben, gerade um jegliche Identifikation mit einer Schulungsmethode aufzulösen.
Die Ausbildung unter einem → Guru oder in einer esoterischen bzw. spirituellen → Schule hat den Zweck, innere und äußere Mittel bereitzustellen, den schwierigen Weg in Welten zu finden, die dem normalen Bewusstsein entweder nicht zugänglich oder nicht bekannt sind. Die Ausbildung sollte zu mehr Klarheit führen, zu einem größeren Verständnis von sich selbst und der Welt.
„Jeder von uns hat seinen eigenen inneren Meister, der persönlich und individuell ist. Der Meister ist jenseits des Mentalen. Wir müssen die richtige Einstellung zu ihm finden: Sind wir bereit, seiner Autorität zu gehorchen, werden wir dem zustimmen, was er uns bringt? Es kann nur mit unserer Einwilligung geschehen, dass unser wirkliches Ich in uns arbeiten kann“ (J.G. Bennett 1982, 117).
Der tibet. → Lama Chögyam Trungpa schreibt in seinem Buch „Spirituellen Materialismus durchschneiden“ über die Beziehung zwischen Guru und Schüler:
„Manch einer schließt sich auch einem Klub an oder lässt sich in eine bestimmte Organisation einführen, weil er sich vereinsamt fühlt oder lukrative Verbindungen sucht. Er bekommt wohl, was er erwartete, aber was hat er damit erreicht? Wer täuscht hier wen? Betrügt der Lehrer oder Guru sich selber, indem er sein Ego ausweitet? ‚Ich habe so eine große Gefolgschaft!’ Oder täuscht er seine Anhänger, indem er sie glauben macht, sie seien besser und spiritueller geworden, bloß weil sie sich seiner Organisation angeschlossen haben … Es geht hier nicht darum, einen weisen Guru zu finden, dessen Weisheit man kaufen oder stehlen kann. Wahre Einweihung erfährt man nur durch schlichten und aufrichtigen Umgang mit dem spirituellen Freund und sich selbst.“ (Chögyam Trungpa 1999))
Zu dieser Beziehung oder spiritueller Gruppenarbeit kommen noch kulturbedingte Probleme hinzu. In vielen Fällen hat eine spirituelle Form eine machtvolle Orthodoxie ausgebildet. Je nach Land, in dem der Sucher sich umsieht, wird er mit kulturell-religiösen Ansprüchen konfrontiert, die manchmal akzeptiert werden müssen, manchmal nicht. Ein freier Mensch unterwirft sich höchstens äußerlich bestimmten rituell-religiösen Verpflichtungen, wenn er sich erhofft, unter diesen Umständen etwas Sinnvolles zu lernen. Viel häufiger kommt es indes vor, dass ein Lehrer oder eine Gruppe, die unbedingte Annahme der kulturellen Rituale ihres Landes oder ihrer Religion fordern, zu beschränkt sind und daher nur museale Rituale vermitteln können.
Selbstverständlich gibt es auch im Westen östliche Lehrer, die einfach ihr kulturell geprägtes Modell mitbringen, ohne es den gegebenen Umständen anzupassen. Die Forderung nach einer bestimmten Kleidung, einem bestimmten äußeren Verhalten oder Gruppenzwänge sind Anzeichen für derartige Begrenzungen des Lehrers. Das gilt auch, wenn innerhalb des Übungssystems scheinbare Freizügigkeit herrscht. Es ist immer wieder festzustellen, dass solche Mittel dazu benutzt werden, dem Schüler die wahren Absichten der Gruppe oder Sekte zu verschleiern.
In den vergangenen Jahrzehnten wurden in den westlichen Gesellschaften immer mehr Ableger asiatischer Wege gegründet – zunächst unter Anleitung eines Meisters, der aus der Herkunftskultur stammte, wie z.B. aus Japan, Thailand oder Indien, später auch durch Gründung von „Filialen“ durch Schüler, die in diesen Ländern den entsprechenden Weg studiert hatten. So finden sich heute bei uns viele buddhist. Zentren oder sogar buddhist. Klöster, es gibt Zen-Gemeinschaften und Yoga-Schulen. All diese Lehren müssen natürlich eine Wandlung durchmachen, wenn sie sich in unserer Gesellschaft etablieren wollen, auch wenn sie je nach Ausrichtung mehr oder weniger strikt den traditionellen Mustern und Vorgaben folgen. Gerade am → Buddhismus (in seinen vielfältigen Ausprägungen) hat sich jedoch gezeigt, dass er durchaus mit westlichen Gegebenheiten verbunden werden kann.
Bestimmte Traditionen können dagegen nur in ihrer eigenen Kultur und ihrem Lebensumfeld studiert und gelernt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der → Schamanismus, der heute noch in vielen indigenen Völkern lebendig ist. Ein Schamane wird dort in den meisten Fällen schon in der Kindheit „berufen“, oder der alte Schamane stellt fest, dass eine Person die notwendigen Fähigkeiten dazu mitbringt. Es kommt gelegentlich auch vor, dass eine Person den inneren Drang zu dieser Ausbildung spürt. Wenn der Schamane diesen Menschen für geeignet hält, folgt eine jahrelange Ausbildung und Unterweisung verbunden mit Askese und körperlichen Anstrengungen. Diese Art der Ausbildung ist nur in diesem bestimmten Umfeld möglich, denn das Schamanentum ist eine Erfahrungswissenschaft im Rahmen einer indigenen Gemeinschaft.
Angezogen von der besonderen „Exotik“ dieses Schamanentums finden heute immer mehr westliche Sucher den Weg in eine solche Gemeinschaft und möchten zum Schamanen ausgebildet werden. Es gibt indes nur sehr wenige, die diese Schulung über lange Jahre und unter den Bedingungen einer indigenen Gemeinschaft durchhalten. Man kann sich vorstellen, dass Seminare und Schnellkurse mit dem Ziel der „Ausbildung zum Schamanen“ in unserer Gesellschaft nur an der Oberfläche der Möglichkeiten kratzen, die eine ernsthafte Ausbildung „vor Ort“ mit sich bringt.
Die grundlegende Frage ist, ob ein Mensch, der von der mitteleurop. Kultur und Gesellschaft geprägt ist, nicht von einer anderen, den Umständen gemäßeren Ausbildung mehr profitiert. Es gibt in vielen Ländern fortschrittliche Lehrer, die dem westlichen Sucher anders gegenübertreten und ihn, falls er seine „Hausaufgaben“ gemacht hat, ohne äußere Verpflichtungen in seine Lehre und Erkenntnisse einweihen. Auch hier gilt die Faustregel: Ein Lehrer, der selbst die kulturelle Schranke übersprungen hat, wird offen genug sein, einem vorbereiteten Schüler weiterzuhelfen. Der Schriftsteller Nikos Kasantsakis („Alexis Sorbas“, „Die letzte Versuchung“) sagte einmal: „Wahre Lehrer sind wie Brücken. Sie fordern ihre Schüler auf, sie zu überqueren; und wenn sie ihnen den Übergang erleichtert haben, stürzen sie freudig in sich zusammen und ermutigen ihre Schüler, sich ihre eigenen Brücken zu bauen“ (Nikos Kasantsakis).
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