Zeit und Gegenwärtigkeit – Daniel Herbst

von Redaktion
Wenn bewusste Wahrnehmung an die Stelle von Gedanken tritt

Wie wirklich ist die Zeit? Ist sie nur eine Vorstellung? Wie gelangen wir aus dem Gedankenfilm in diesen Moment, wach und klar? Daniel Herbst zeigt in seinem Essay Möglichkeiten und Wege auf.

Wir können mittlerweile alles aufnehmen – mental und elektronisch. Das heißt aber nicht, dass wir es auch erleben, verstehen und integrieren können. Vielleicht ist eher das Gegenteil der Fall. Zu viele Aufzeichnungen hindern uns daran, in unserem Leben anzukommen. Wie war es, in der DDR zu leben? Wie ist es in Simbabwe? Auf der faktischen Ebene kann uns fast alles zur Kenntnis gebracht werden – aber was bedeutet das schon? Jemand, der keine unmittelbare Kenntnis hat, schöpft aus der Quelle des „unerlebten Wissens“.
Derselben Quelle entspringt die chronologisch ablaufende Zeit. In Gedanken können wir überall hin. Wir können die Zeit abspulen und über Dinge sprechen, von denen wir keinen blassen Schimmer haben. Da hören wir uns über das Mittelalter sprechen oder über die Menschen in der Steinzeit. Kaum einmal fällt uns auf, wie sehr wir auf Mutmaßungen und Spekulationen angewiesen sind. Und das hat mit unserem Verstand zu tun. Genauer, mit der Art und Weise wie er arbeitet, wenn er unbeobachtet ist.
Alles, was ist, war einmal unsichtbar. Und das, was noch unsichtbar ist, wird irgendwann sichtbar werden. Zwischen der Unsichtbarkeit und seiner Sichtbarwerdung liegt „nichts weiter“ als Zeit. Die Zeit gibt einen Hinweis darauf, dass wir uns durch den Raum des Lebens bewegen. Das heißt allerdings nicht, dass es die Zeit wirklich – in der Wirklichkeit – gibt. (….)
Immer, wenn wir uns durch den Raum bewegen, bewegen wir uns auch durch die Zeit. Raum und Zeit sind zutiefst ineinander verwoben. Sie sind untrennbar eins. Doch die Zeit, die wir brauchen, um eine Distanz zu überwinden, trennt uns nicht nur von dem Ort, an dem wir sein wollen, sondern auch von dem Ort, an dem wir sind. Wenn wir nicht aufpassen, befinden wir uns während der Zeit, die wir für die Distanzüberwindung benötigen, in einer Art Niemandsland. Und da ist niemand gerne!
Durch die Zeit erhalten wir die Möglichkeit, von einem Ort zu träumen, der jenseits der Leere liegt. Letztendlich hoffen wir, im Laufe der Zeit einen Ort zu finden, an dem wir uns ganz zu Hause fühlen. Ohne es recht zu bemerken, glauben wir, dass wir uns irgendwann selbst erreichen werden. Damit diese Idee weiterhin bestehen kann, brauchen wir immer wieder neue Zeit.
Chronologische Zeit und Jetzt
Die Zeit, die wir kennen, läuft chronologisch ab. Sie trennt das Geborenwerden vom Sterben, das Gestern vom Morgen, den Samen von der Frucht. Damit trennt sie, was von Anfang an zusammengehört. Wenn wir zu sehr durch die Zeit auf die Welt schauen, werden uns viele Zusammenhänge verborgen bleiben. Z.B., dass München und Hamburg lediglich die Endpunkte einer beliebigen Strecke bilden. Dazu passt das Gefühl der Zerrissenheit. Statt hier zu sein, wollen wir dort sein, woanders. Statt das zu erleben, was sich gerade entfaltet, wollen wir etwas anderes erleben. Doch was wir auch tun – wir können unseren Aufenthaltsort selbst dann nicht hinter uns lassen, wenn wir ständig unterwegs sind. Wo wir uns auch aufhalten mögen, wir sind immer hier. Das gilt es zu entdecken! Hier endet die Flucht!
Was unterscheidet einen weit entfernten Ort von einem Menschen, der gestern gestorben ist? Auf den ersten Blick scheint die Antwort klar: Einen weit entfernten Ort können wir irgendwie erreichen, den gestern gestorbenen Menschen nicht mehr. So wie es aussieht, befindet sich die Vergangenheit an einem unzugänglichen Ort. Das, was vergangen ist, kann nur noch in unseren Gedanken auferstehen. Aber was ist mit dem Verstorbenen, wenn wir gerade nicht an ihn denken? Natürlich – dann existiert er nicht. Sein Existieren und Nichtexistieren hängt einzig und allein von unseren Gedanken ab!
Alles, woran wir denken, tritt augenblicklich in die Existenz. Wir bewegen uns ständig dahin, wohin wir von unseren Gedanken bewegt werden. Um in diesem Vor und Zurück nicht den Überblick zu verlieren, erscheinen unsere Gedanken in einer Weise auf dem „Schirm“, die sich einwandfrei zuordnen lässt. Von Futur 2 bis Plusquamperfekt. Von vollendeter Zukunft bis in die vollendete Vergangenheit ist alles dabei. Einzig die Gegenwart (das Präsenz) ist von unseren Gedanken unabhängig. Ich gehe. Ich atme. Ich ärgere mich.
Die Gegenwart lässt sich nicht denken. Sie wird erst im Nachhinein identifiziert und in Form von imaginären Zeitpunkten auf einer imaginären Zeitachse abgelegt. Konserviert und in seine Einzelteile zerlegt kann das, was gewesen ist, bis in alle Ewigkeit überdauern und wieder gefunden werden. Aber nicht als die lebendige Gegenwart!
Spirituelle Synchronizität
Der Verstand hat sich durch die Konstruktion der Zeit die Möglichkeit erschaffen, sich „nach eigenem Plan“ durch den Raum zu bewegen. Dabei begegnet ihm allerlei Totes und Abgetragenes. Aber auch Phantastisches, ja geradezu „Unvorstellbares“! Sobald das klar ist, lässt das zwanghafte Interesse nach, die Zeit ständig vor und zurück zu spulen. Wer durch die Zeit hindurch schaut, den kann sie nicht mehr gefangen nehmen. Die mentale Entspannung versetzt uns in die Lage, uns wichtigeren Dingen zuwenden. Der eigenen Präsenz; dem Leben, so wie es sich gerade zeigt. Das schließt den Verstand mit ein. Schweigend hat er die Kraft, konstruktiv mitzuwirken.
Ein Mensch, der mit dem, was er sieht, auf gleicher Höhe ist, ist von etwas umgeben, dass ich hier „spirituelle Synchronizität“ nennen möchte. Für einen solchen Menschen spielt es keine Rolle mehr, was sein sollte, was war oder sein wird. Oft – fast immer! – hindern uns die eigenen Vorstellungen und Erinnerungen daran, zu erkennen, was offensichtlich ist. Deshalb hält sich das Offensichtliche von demjenigen fern, der die eigenen Vorstellungen und Erinnerungen über das Leben stellt.
Was ist bekannt, was unbekannt?
Der Irrtum liegt in der Unterscheidung zwischen bekannt, was Vergangenheit bedeutet, und unbekannt, was sich nach Zukunft anhört. Diese klare Trennlinie existiert nicht. Wir glauben zu wissen, was sich bisher abgespielt hat. Mittelalter! Christi Geburt! Französische Revolution! – Sofort steigen Bilder in uns auf. Dabei ist die Französische Revolution nicht abgeschlossen. Sie bewegt sich durch den Raum der Zeit. Aus der Tiefe des Raumes betrachtet, findet sie gerade erst statt. Von noch weiter weg geschaut, hat sie noch gar nicht stattgefunden. Die Zeit ist so relativ, wie unser eigener Standpunkt!
Für den Zeitablauf ist es also überaus relevant, wo wir uns gerade aufhalten: Wo im Raum und wo in unseren Gedanken. Näher betrachtet wird klar, dass die Zeit ein ziemlich fragiles Gebilde ist, das aus sich selbst heraus weder chronologisch ist, noch so funktioniert.
Chronologisch läuft die Zeit nur ab, wenn ich mich vom Leben trenne und die Lebensgeschehnisse von einem festen Standpunkt aus betrachte. Dann wird die Zeit zur fortlaufenden Zahl. 605! 1899! Vor oder nach Christus? – Was ist 1649 passiert? Die Frage ist wiederum: wo? Hinzu kommt die Frage: für wen? 1649 ist alles Mögliche passiert. So wie gestern, so wie heute.
Wenn das, was passiert, von jemandem erlebt wird, der spirituell synchron läuft, stellt die chronologisch ablaufende Zeit nur noch eine Randnotiz dar. Sie verliert ihre Relevanz! Damit wird das, was ist, wirklich wichtig. Statt an Jahrestagen mit gespielter Betroffenheit Kränze niederzulegen, werden die Gräueltaten selbst unmöglich. Der Schlüssel zur Heilung befindet sich weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Er liegt ganz zweifellos außerhalb der Zeit. Der spirituellen Synchronizität steht nur eins im Wege: Der mentale Flüchtling in uns.
Ich fange gerade erst an!
Das Erwachen beinhaltet die Realisation:
Ich fange gerade erst an.
Dieses Gefühl ist ewig.
Ich fange gerade erst an!
In der Realisation hebt sich der Zeitbegriff, so wie er uns beigebracht worden ist, auf. Das heißt nicht, dass es danach kein Zeitgefühl mehr gibt, sondern, dass das Zeitgefüge danach nicht mehr in eine chronologische Abfolge gezwängt werden muss. Futur 2 und Plusquamperfekt existieren dann schlicht und ergreifend nicht mehr. Hier ist alles Prozess, alles ist lebendig. Das denkende Zentrum erkennt, dass es immer hier ist. Es denkt gerade. Es denkt sich nicht mehr fort.
Der Artikel erschien erstmals in VISIONEN 8/2009, http://www.visionen.com

Autor: Daniel Herbst

Daniel Herbst ist ein wunderbarer Autor zu Themen wie Sein und Erleuchtung. www.daniel-herbst.de

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