Llull, Ramon

von Lexikon

Llull, Ramon (lat. Raimundus Lullus, 1232/33-1316)

Mallorquinischer Mystiker und originaler Denker. Er verbrachte seine Jugend an Höfen, die in Kontakt mit den → Katharern standen, und empfing seine mystische Vision auf dem Berg Randa auf Mallorca im Jahre 1272. Sein berühmtestes Werk ist das „Opusculum“, in dem er die ars magna, die „große Kunst“, entwickelte. Damit gelang ihm eine systematische Zusammenfassung seines erworbenen Wissens, wie wir sie im ganzen Mittelalter kaum geschlossener antreffen.
Den Kern dieser Systematik stellt Llulls Prinzipienlehre dar, die ars generalis. In seiner Philosophie gibt es viele Parallelen zur Buchstabensymbolik der → Kabbala. Wie im „Sohar“ aus dem namenlosen En Soph die Namen der → Sefiroth hervorgehen, so entsteht auch in Llulls Lehre aus diesem unendlichen Göttlichen ein neunfältiger Kreis (→ Ennegramm), in dessen Mittelpunkt das A (für → Alpha oder Ain Soph steht) und in den Feldern um den Kreis die Buchstabenreihe BCDEFHIK. Diesen Buchstaben sind bestimmte göttliche Qualitäten zugeordnet, die alle auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden können.
Diese „Kunst“ kann als eine Art „Denkmaschine“ bezeichnet werden. Sie enthält alle Grundlagen einer Kombinatorik, die ein Vorläufer unserer heutigen Computer gewesen sein könnte. Ein Kommentator schreibt: „Der Lullus-Computer muss auf dem Felde der Metaphysik gewirkt haben wie die ersten Taschenrechner im Mathematikunterricht. Plötzlich konnten schon Vorschüler Wurzeln ziehen, ohne zu wissen, was eine Wurzel ist.”
Der Religionsphilosoph Arnold → Keyserling kommentiert Llulls Kombinatorik:
„Dieser hatte als erster die philosophischen Kategorien aus ihrem ontologischen Rahmen herausgenommen. Er ordnete sie auf einem mechanischen Modell in konzentrischen Kreisen an und behauptete, dass alle philosophischen Probleme sich aus ihren Kombinationen lösen ließen, wenn man die Begriffe nur richtig zueinander in Beziehung setze und verbinde … Von den Florentiner Philosophen [der Renaissance wie Marsilio Ficino (1433-1499)] wurde die lullische Kunst aufgenommen, da sie mit der Philologie in einem Zusammenhang stand; auch die Sprache lässt sich auf eine mehr oder weniger freie Kombination von Buchstaben zu Worten, von Worten zu Sätzen und von Sätzen zu den verschiedenen Arten der Stile zurückführen: der Dichtung, der wissenschaftlichen Abhandlung oder des Dramas. Ihre metaphysische Untermauerung und Rechtfertigung fand sie in der Wiederaufnahme der Lehre von den stoischen rationes seminales, den keimhaften Seinsgründen, die aber nicht, wie bei den Kirchenvätern, mit den → Engeln, sondern mit den platonischen Ideen als Ursprung aller Gestaltung identifiziert wurden.“ (Arnold Keyserling 2000, 272)
Ramon Llulls Prinzip lautet: Nichts gibt es im Sein, was nicht auf ein anderes zurückgeführt werden kann. Auf die Kombinatorik der Grundelemente, d.h. absoluter und relativer Prinzipien, können alle Formen des Seienden zurückgeführt werden. Für Llull sind die absoluten Prinzipien Eigenschaften Gottes – ein Element, das auch bei den Sufis (→ Sufismus) in den schönen Namen bzw. Eigenschaften Allahs zu finden ist. Llull nennt diese Prinzipien Güte, Größe, Dauer, Möglichkeit, Erkenntnis, Wille, Tugend, Wahrheit, Herrlichkeit. Diesen Prinzipien ordnet er die neun Buchstaben von B bis K zu, das A als Absolutes und Zehntes ist der Ausgangspunkt. Alle diese Begriffe können aufeinander bezogen werden. Weitere relative Prinzipien wie Unterschied, Entsprechung, Ähnlichkeit usw. werden wiederum davon abgeleitet.
Tugenden und Laster sind weitere Ebenen auf seiner Tabelle „Ars Brevis“. Vermittels der Kompositionslehre, die aus Fragen besteht wie Welcher?, Was?, Woher?, Weswegen?, Wie viel?, Wie beschaffen?, Wann?, Wo?, Wie? können unzählige Verbindungslinien hergestellt werden. Damit dies nicht zu umständlich wird, nimmt man nur die Buchstaben. Wenn man diese nun in Llulls „Denkmaschine” dreht und neu kombiniert, entstehen Antworten wie: „Güte ist groß”, „Güte ist unterschieden” usw. Nun werden die entsprechenden Aussagen gebildet für Größe, Unterschied oder Einheit. Die logische Satzkette geht dann zu komplexeren Formen über und mündet in sinnvolle Fragesätze wie „Was ist die große Einheit” oder „Welche Einheit ist unterschieden?”. Es kann eine Fülle neuer Sätze, Fragen und Antworten entstehen. Es könnte auch ein Satz vorkommen wie „Gott ist lasterhaft”.
Ein weiteres System von Ramon Llull ist die ars generalis, die wahrscheinlich der Ausgangspunkt des → Tarot ist. In dieser Kombinatorik können alle möglichen Begriffe auf einen Fächer von sieben konzentrischen Kreisen verteilt werden, deren jeder ein besonderes Wissensgebiet (z.B. A die ganze Theologie, B die Psychologie, C die Grammatik usw.) darstellt. Je nachdem, wie man nun diese Kreise um einen gemeinsamen Mittelpunkt rotieren lässt, lassen sich alle gewünschten Kombinationen mit Leichtigkeit herstellen und so alle gewünschten Wahrheiten „beweisen“.
Die Ursache dieser enzyklopädischen Anstrengung liegt in der ungeheuren Vermehrung des Wissens in der damaligen Zeit. Die Scholastik, die → Kabbala, alle Wissenschaften, erlebten ihre Blüte. Wie sollte ein einzelner Mensch das alles noch als Ganzheit sehen? Das gleiche Problem stellt sich heute wieder, aber inzwischen hat man die Computer, die eine solche Arbeit übernehmen können. Doch eine sinnvolle Kombination des Wissens müssen wir immer noch selbst herstellen.

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