Im freien Fall: Krise oder Chance? – Manfred Miethe

von Redaktion

Mögest du in interessanten Zeiten leben – Chinesischer Fluch
Finanz- und Immobilienkrise, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Klimakatastrophe, Krieg, Terror, Kriminalität: Mit uns Menschen scheint es unaufhörlich bergab zu gehen und alles scheint immer nur schlechter zu werden. Das zeigen uns zumindest die Nachrichten täglich. Aber diese Betrachtungsweise ist nicht die einzig Mögliche. Die andere sieht so aus: Wir leben nicht in schlechten Zeiten, sondern in einer interessanten Zeit, die uns Möglichkeiten des inneren Wachstums in Hülle und Fülle bietet. Niemand hat uns je versprochen, dass das menschliche Dasein leicht sein würde, angenehm oder ungefährlich. Jeder von uns hat bei seiner Geburt nur die eine Gewissheit mit auf den Weg bekommen, nämlich dass keiner von uns dieses Leben überleben wird. Alles andere mögen zwar tröstliche Worte sein, sind aber letztlich unerfüllbare und damit falsche Versprechungen.

Mann fängt Kind im freien FallWer glaubt, dass das, was gestern gegolten hat, auch morgen noch gültig sein wird, sperrt sich selbst in ein Gefängnis, aus dem ihn niemand befreien kann. Wir leben heute mitten in einer Krise, die nicht nur viele individuelle Schicksale kennt, in der nicht nur einstmals große Nationen vom Untergang bedroht sind, sondern das menschliche Leben schlechthin. Und das ist eben nicht nur unser Fluch, sondern auch unsere Verheißung; das ist eben nicht nur die größte Gefahr für uns, sondern auch unsere größte Chance.
Die Situation, der wir uns heute gegenübersehen, erfordert, dass jeder von uns umdenkt und umlernt, alle seine Denk- und Verhaltensweisen auf den Prüfstand stellt und es wagt, sich neu zu orientieren und sich zu ändern. Die Krücken, die uns gestern nämlich noch das Gehen ermöglicht haben, hindern uns heute am Laufen. Der Rucksack, in dem wir all die Methoden, Glaubenssätze und Ideologien alter Zeiten mit uns herumtragen, drückt uns heute so schwer aufs Gemüt, dass wir die Welt – wie sie heute ist – nie verstehen werden.
Wir alle befinden uns im freien Fall. Und das ist gut so!
Sicherheit gibt es nur auf dem Friedhof. Leben aber heißt Risiken einzugehen, sich zu verändern, täglich ins Ungewisse hineinzuspringen, das Gestern – etwas klüger geworden – hinter sich zu lassen. Wer begreift, dass das Leben ein großes Abenteuer ist, das nicht abgearbeitet, sondern erlebt werden will, und dass der Mensch mehr ist, als sich seine Schulweisheit träumen lässt, der wird die derzeit herrschende allgemeine Verunsicherung als Herausforderung begreifen können und gestärkt aus dieser Prüfung hervorgehen.
Das Leben meint es immer gut mit uns. Mein Ehrenwort darauf! Aber da der Mensch vor allem träge und dumm ist, braucht er ab und zu einen kleinen Wink mit dem sprichwörtlichen Zaunpfahl. Und da wir im Herzen Europas extrem faul und bequem geworden sind und jedes selbständige Denken überwiegend eingestellt haben, müssen all unsere Werte in Frage gestellt werden, damit sich jeder von uns darauf besinnen kann, was er wirklich ist: ein einmaliger, unwiederholbarer Versuch des Lebens sich auszudrücken. Der Mensch ist eben nicht als Konsument gedacht, sondern als Mitschöpfer Gottes – als sein Ebenbild.
Jeder Mensch ist eine Bereicherung des Universums. Auch Sie! Jeder Mensch trägt seinen einzigartigen unverwechselbaren Teil zur Schönheit des Kosmos bei. Ehrlich! Verändert sich ein einziger Mensch, verändert sich das gesamte All. Der Mensch war doch nie als passiver Zuschauer des Lebens gedacht, sondern als sein aktiver Gestalter. Es verblüfft mich immer wieder, dass sich die meisten Männer mehr für Fußball und die meisten Frauen mehr für Mode interessieren als für ihr Leben. Wollen Sie denn gar nicht mitspielen bei diesem aufregenden Spiel und Ihr Bestes geben?
Schließlich leben wir doch in der spirituellsten Zeit, die es auf diesem Planeten vermutlich je gegeben hat. Zum ersten Mal in der überlieferten Geschichte der Menschheit haben nicht nur einige wenige Ausnahmemenschen die Möglichkeit erleuchtet zu werden, sondern wir alle. Erleuchtung ist kein jenseitiger Zustand, in dem wir all unsere Menschlichkeit verlieren, keine Probleme mehr haben und selig lächelnd für immer dieser Welt entrückt sind. Das Wort „Erleuchtung“ beschreibt lediglich einen Zustand, in dem wir uns unserer Konditionierungen bewusst geworden sind, wodurch diese ihre Macht über uns verloren haben. Und das wiederum bedeutet, in der Gegenwart zu leben und nicht in den Fantasiewelten von Vergangenheit und Zukunft.
Noch nie standen uns so viele Informationen zur Verfügung – und doch sind wir so unwissend. Noch nie waren wir so miteinander vernetzt – und doch sind wir so einsam. Noch nie konnten wir so leicht von räumlich und zeitlich weit entfernten Kulturen lernen – und doch sind wir so wenig bereit, uns wirklich auf etwas einzulassen. Noch nie war das menschliche Leben so vom Untergang bedroht wie heute – und doch leben wir, als würde alles ewig so weitergehen. Noch nie hat sich das Rad des Wandels mit einer solchen Geschwindigkeit gedreht – und doch denken wir immer noch in den alten Schablonen.
Wem bei der Geschwindigkeit, mit der sich die äußere Welt ändert, schwindlig wird, der kann sich entweder am Vertrauten festklammern und innerlich sterben oder er könnte auch loslassen und sich in die weit geöffneten Arme des Lebens – Gottes – fallen lassen. Und wer das tut, der wird die größte Überraschung seines Lebens erleben.
Wachstum findet immer dann statt, wenn Sicherheiten in Frage gestellt werden, weil sich eine bisherige Lebensweise als überholt, unnütz oder gar schädlich herausgestellt hat. Wer nicht hören will, muss fühlen, lautet das alte Sprichwort. Wer sich nicht an veränderte Umweltbedingungen anpasst, der wird untergehen, lautet das Gesetz der Evolution. Die Dinosaurier haben es uns vorgemacht: Ihre Gehirne waren zu klein und ihre Panzer zu groß.
Unser Leben und unser Körper sind nur geborgt. Am Ende wird Gott sie von uns zurückhaben wollen und uns fragen, was wir mit seinem kostbaren Geschenk gemacht haben. Werden wir ihm dann einen Haufen Lumpen vor die Füße werfen oder werden wir ihm ein wunderschönes Gewand überreichen? Wollen wir möglichst unauffällig durchs Leben schleichen und uns als Opfer widriger Umstände sehen oder wollen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen und das Höchste werden, was wir werden können?
Die Entscheidung liegt bei jedem Einzelnen von uns.

© Copyright 1998, 2011 Manfred Miethe
Manfred Miethe Manfred Miethe, 1950 in Hamburg geboren, lebt im Berner Oberland, wo er schreibt, übersetzt, Qigong und Taiji unterrichtet und die Aussicht auf die Berge genießt. Sein aktueller Blog heißt: http://lebenskunstundspiritualitt.blogspot.com

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1 Kommentar

Anke 20. Juli 2011 - 13:42

Ein sehr interessanter Artikel. Bist Du es DIR wert die Zeit zu investieren und ihn zu lesen?

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